Schräg und blutig: Till Lindemann als durchgeknallter Koch während des Songs "Mein Teil"

Hessen Rammstein in Frankfurt: Kein Platz mehr für Ironie

Stand: 12.07.2024 09:22 Uhr

Feuer, Rauch und fette Gitarren: Rammstein bieten im Frankfurter Waldstadion wieder eine gewaltige Show. Doch die Band ist nach den Vorwürfen gegen Sänger Lindemann nicht mehr dieselbe, auch wenn sie das gerne wäre.

Von Julian Moering

Ein ohrenbetäubender Knall zerreißt die abendliche Stille im Frankfurter Waldstadion, Funken sprühen und dichter Rauch zieht durch das weite Rund: Rammstein sind wieder da!

Über 40.000 Menschen sind am Donnerstagabend ins Waldstadion gekommen, um die Berliner Rock-Legende bei ihrem ersten von drei Frankfurt-Konzerten ihrer Stadion-Tour durch Europa zu sehen.

Und Rammstein machen dort weiter, wo sie vor fünf Jahren aufgehört haben, als sie Frankfurt ihren letzten Besuch abstatteten: Über zwei Stunden lang verwandeln Sänger Till Lindemann und seine fünf Bandkollegen das Stadion in einen höllengleichen Ort aus Feuer und Rauch.

Vieles erinnert an 2019

Vieles erinnert an die Show im Jahr 2019: Die Setlist wurde nur leicht verändert, die Bühne ist noch dieselbe, ebenso die Effekte. Beim Welthit "Du hast" fliegen Raketen an Seilen durch das Stadion und lassen die Bühne explodieren, bei "Sonne" schießen vorne wie hinten Feuersäulen bis unter das Dach, die Hitze ist selbst in den letzten Reihen noch zu spüren.

Ein weiteres Highlight ist die Sequenz während "Mein Teil", in der Lindemann seinen Keyboarder Flake in einen großen Kochtopf steckt und mit einem Flammenwerfer ordentlich einheizt. Dazu gibt Schlagzeuger Christoph Schneider maschinengleich den Takt vor, die fetten Gitarrenriffs fahren tief in die Magengegend.

Die Show ist perfekt choreografiert, die im Industrie-Stil gehaltene stählerne Bühne bietet die perfekte Kulisse für die überwältigenden Pyro-Effekte.

Keyboarder Flake wird in einem großen Topg "gekocht".

Keyboarder Flake wird in einem großen Topg "gekocht".

Alles wie immer und doch alles anders

Alles wie immer also bei Rammstein, und doch ist diesmal alles anders. Zu eng sind mittlerweile die Vorwürfe wegen angeblicher sexueller Übergriffe gegen Sänger Till Lindemann mit dem Namen Rammstein verbunden. Es geht um Machtmissbrauch und toxische Männlichkeit. Ein regelrechtes "Casting-System" soll er sich geschaffen haben, in dem er sich junge Frauen zuführen lässt.

Rund um die Band haben sich die Fronten verhärtet, Protestierende und Fans stehen sich auch an diesem Abend unversöhnlich gegenüber, beide Seiten werfen sich gerne auch mal ein deftiges "Arschloch" an den Kopf. Das macht so keinen Spaß, so sollte ein Rockkonzert nicht sein.

Solch eine Ausgangslage verändert ein komplettes Konzerterlebnis. Was Rammstein bis zum Bekanntwerden der Vorwürfe in ihrer mittlerweile 30-jährigen Bandhistorie immer ausgemacht hat, war ihr Sinn für Ironie, der sie immer viel Platz eingeräumt haben.

Kein Raum mehr für Ironie

Man konnte ihre Musik ernst nehmen, manch einer mag sich auch in den derben Texten wiedergefunden haben. Aber Rammstein ermöglichten immer auch einen ironischen Zugang zu ihrem Werk und somit die Möglichkeit, das Feuer und die Brachialität mit einer ironischen Distanz zu feiern.

Und ist man ehrlich: Textzeilen wie "Die Haut so jung, das Fleisch so fest, unter dem Haus ein Liebesnest" oder "Schönes Fräulein, Lust auf mehr? Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr" waren auch nur mit einer gehörigen Portion Ironie zu ertragen.

Doch die Ironie ist einer schwer zu greifenden Mischung aus Ignoranz und Selbstgefälligkeit gewichen. Mehr noch: Angesichts der moralischen Verwerflichkeit von Lindemanns möglichem Handeln sind Textzeilen wie diese regelrecht unerträglich geworden.

Peniskanone wirkt deplatziert

Ebenso die überdimensionierte penisgleiche Schaumkanone, auf der Lindemann gegen Ende des Konzerts reitet und vermeintlich Sperma über die ersten zwanzig Reihen des Publikums verspritzt. Mit Ironie zumindest ein bisschen witzig, ohne aber reichlich deplatziert.

Auch wenn die Lieder noch dieselben sind und noch genauso gespielt werden, klingen sie nun anders, es fällt schwerer, sich auf sie einzulassen. Das haben viele der 40.000 Zuschauerinnen und Zuschauer an diesem Abend sicher anders erlebt. Jene, die eher über die Ironie einen Zugang zu Rammstein gefunden hatten, sind nicht gekommen.

Kein Rammstein-Konzert ohne massenhaft Pyrotechnik

Kein Rammstein-Konzert ohne massenhaft Pyrotechnik

Wagenburg Rammstein

Dass sich die Stimmung um die Band so verändert hat, ist natürlich in erster Linie dem Geschehen rund um Lindemann zuzuschreiben. Aber auch der Rest der Band hat maßgeblich dazu beigetragen, indem sie sich entschieden haben zu schweigen. Das ist ihr gutes Recht, gut ist es damit aber noch lange nicht.

Es gäbe so viele Möglichkeiten, dieser Situation zu begegnen. Man könnte beispielsweise offen über die Folgen von Machtmissbrauch sprechen, man könnte auch Projekte unterstützen, die Opfern von sexuellen Übergriffen helfen. Eine Band wie Rammstein könnte mit ihrer Strahlkraft und Reichweite viel bewirken, und es wäre ein Zeichen, dass man die Vorwürfe ernst nimmt, selbst wenn juristisch nichts gegen die Band vorliegt. Stattdessen haben sie sich entschlossen, sich hinter Lindemann in ihrer Wagenburg zu verschanzen und einfach weiterzumachen, als wäre nichts passiert. Doch das funktioniert nicht.

Weniger Vielfalt im Publikum

Dadurch hat sich auch das Publikum verändert. Wo in den letzten Jahren Menschen aller Couleur miteinander eine rauschende Pyro-Party feierten, wirkt die Zuschauerschar nun deutlich homogener. Viele, die sich auch mal als Fans der Band bezeichneten, sind abgeschreckt.

Rund um das Stadion sieht man viele Deutschlandfahnen – an Autos, Pavillons und Getränkebuden etwa. Auch Menschen mit T-Shirts, auf denen verfassungsfeindliche Symbole zu erkennen sind, mischen sich unter die Masse. Es ist eine Minderheit, aber es sind deutlich mehr als noch vor fünf Jahren.

Rammstein war einst eine Band für viele, jetzt ist es nur noch eine Band für manche. Manche, die für Ironie offenbar noch nie viel übrig hatten.