Foto einer Linien-Zeichnung an einer Tafel oder schwarzen Wand: Ein Mann und eine Frau halten sich jeweils die Arme in den Schritt und die Beine sind leicht eingeknickt.

Hessen Tabuthema Inkontinenz: Was tun, wenn ständig was in die Hose geht

Stand: 25.06.2024 11:10 Uhr

Inkontinenz ist weit verbreitet – und ein Tabuthema. Dabei gibt es unzählige Methoden, um betroffenen Frauen und Männern zu helfen. Eine junge Mutter aus dem nordhessischen Frielendorf hat jahrelang mit der Scham gelebt, "nicht dicht zu sein". Doch es gab einen Ausweg.

Sport machen, etwas Schweres heben, Trampolin springen – all das war für Valentina Simin vor allem mit Scham verbunden. Die 34-Jährige hat lange unter Inkontinenz gelitten. Nach der Geburt der ersten Tochter hatten die Probleme angefangen, nach der Geburt der zweiten Tochter wurde es noch schlimmer. "Das Gefühl, nicht dicht zu sein, ist nicht schön", sagt Simin.

Husten oder Niesen, ohne zu tropfen: das war für die junge Mutter unmöglich. Simin hat nach den beiden Geburten Rückbildung gemacht und etliche Versuche gestartet, ihren Beckenboden zu trainieren und so zu stärken. Ohne Erfolg. Sie habe sich geschämt, erinnert sich die Mutter aus Frielendorf (Schwalm-Eder), weil das Klischee besage, nur alte Frauen seien von Inkontinenz betroffen. 

Keine nationale Inkontinenz-Strategie

Dabei haben rund zehn Millionen Menschen deutschlandweit mit Inkontinenz zu kämpfen, alle Altersgruppen sind betroffen. Doch kaum einer redet darüber, obwohl der Leidensdruck hoch ist. "Menschen, die inkontinent sind, leiden unter dieser Erkrankung", sagt Marion Friers von der Deutschen Kontinenz Gesellschaft mit Sitz in Frankfurt. Damit nichts in die Hose geht, greifen viele Betroffene auf Einlagen aus der Drogerie zurück. Zum Arzt gehen die wenigsten.

Gesellschaftlich sei das Thema nicht angekommen, so Friers – und das, obwohl es ähnlich viele Betroffene wie bei einer Diabetes-Erkrankung gebe und die Heilungschancen bei 80 bis 90 Prozent lägen. Doch die Politik habe Inkontinenz weniger im Fokus. So gebe es zwar eine nationale Diabetes-Strategie, jedoch kein Pendant für Inkontinenz.

Unverständlich für Friers. Durch eine frühzeitige Diagnose und eine entsprechende Therapie könnten Folgeerkrankungen abgewendet und Kosten gespart werden.

Offen drüber sprechen und Hilfe bekommen

Doch was macht das Thema zum Tabu? Man sei es gewohnt, nicht über "ableitende Systeme" zu sprechen, so Friers. Dazu wolle keiner ein Defizit zugeben. Das sei fatal: denn in dem Moment, in dem man offen darüber spreche, sei die Heilung nah. Zudem sei früher oder später jeder mit dem Thema konfrontiert.

Valentina Simin sitzt in ihrem Wohnzimmer. Sie hat ihre blonden Haare zu einem Zopf gebunden, auf ihrem weißen T-Shirt steht "Milano - italia".

Valentina Simin: "Das Gefühl, nicht dicht zu sein, ist nicht schön."

Auch Simin aus Nordhessen spürte den Druck von außen. Immer wieder habe sie geraten bekommen, einfach abzuwarten und es hinzunehmen, dass man als Frau nach einer Geburt Probleme habe. "Das war das Schlimmste", sagt Simin. Sie habe dann begonnen, sich mehr und mehr mit ihrer Inkontinenz auseinanderzusetzten und sich letztendlich für die Operation und ein sogenanntes TVT-Bändchen entschieden.

Operation: Schleife um die Harnröhre verhindert das Auslaufen

TVT steht dabei für "Tension free Vaginal Tape". Bei der Operation wird ein Bändchen aus Polypropylen wie eine Schleife um die Harnröhre herum gelegt. Die Enden verwachsen mit der Haut und verhindern künftig, dass unter Belastung wie Sport oder Niesen Urin auslaufen kann.

Im Klinikum Kassel würde diese Operation bis zu 100-mal pro Jahr durchgeführt, erklärt Thomas Dimpfl, der Leiter der Frauenheilkunde. Zum einen bei Patientinnen in den 30ern, die nach der Geburt Probleme hätten, aber auch bei Seniorinnen über 90. Für den Eingriff wird keine Vollnarkose benötigt, die Patientinnen bleiben wach, verspüren aber keinen Schmerz.

Zwei unterschiedliche Arten der Inkontinenz

Man unterscheidet bei der Diagnose Inkontinenz zwischen zwei verschiedenen Gruppen. Zum einen gibt es die Belastungsinkontinenz, die bei Sport, Husten oder Niesen auftritt. Hierbei arbeitet der Verschluss der Harnröhre nicht mehr zuverlässig, meist weil der zuständige Muskel beispielsweise durch eine Geburt geschädigt ist.

Die andere Variante ist die sogenannte Dranginkontinenz. Diese äußert sich dadurch, dass die Blase drückt, obwohl sie noch nicht komplett gefüllt ist, beispielsweise bei Nervosität oder einer Blasenentzündung. Beide Varianten werden nach der Diagnose zunächst ohne eine Operation behandelt – meistens durch ein bestimmtes Beckenbodentraining. So soll der Muskel, der die Harnröhre koordiniert, trainiert werden. Erst wenn das keinen Erfolg bringt, sollten Patientinnen über eine OP nachdenken.

Erkrankung nicht aus dem Blick verlieren

"An Inkontinenz stirbt man nicht", sagt Chefarzt Dimpfl. Anders als an Brustkrebs, wenn dieser unbehandelt bleibe. Das sei ein Grund, warum Brustkrebs im Bewusstsein der Öffentlichkeit viel präsenter sei. Dennoch dürfe man die Erkrankung nicht aus dem Blick verlieren. Inkontinenz mache einsam und verhindere, dass man soziale Kontakte oder Partnerschaften eingehe, so Dimpfl. Mit einem erfolgreichen Beckenbodentraining oder einer Operation gebe man den Betroffenen ein Stück Lebensqualität zurück.

Für die meisten Therapien kommen die Krankenkassen auf, dennoch sieht die Expertin der Kontinenz Gesellschaft noch Luft nach oben. Beispielsweise bei der Diagnose. Um eine Therapie besser auf die Beschwerden abzustimmen, werde oft eine Urodynamik-Untersuchung gemacht, um so die Funktion der Blase zu testen. Für die Kliniken gebe es allerdings das Problem, diese Leistung bei den Krankenkassen abzurechnen, da diese im Untersuchungskatalog nicht mehr adäquat abgebildet sei, so Friers.

Simins Operation liegt erst knapp drei Wochen zurück, Sport darf sie noch nicht machen. Doch vor ein paar Tagen hat sie das erste Mal wieder niesen müssen – und nichts ist passiert. Was für die meisten Menschen selbstverständlich ist, ist für die junge Mutter ein unbeschreibliches Glücksgefühl: Die Rückkehr der längst verloren gegangenen Lebensqualität.