Eine Pflegekraft betreut im besonders geschützten Teil der Intensivstation des Universitätsklinikums Greifswald einen Corona-Patienten. (dpa)

Hessen Virologe Stürmer bezweifelt, dass wir genug aus der Corona-Pandemie lernen

Stand: 19.07.2024 11:50 Uhr

In Hessen ist ein Corona-Untersuchungsausschuss eingesetzt worden. Der Virologe Martin Stürmer steht einer solchen Aufarbeitung skeptisch gegenüber. Auch seiner Meinung nach gäbe es aus der Pandemie einiges zu lernen - aber nicht nur für Politiker und Wissenschaftler.

Vor 15 Monaten liefen die allerletzten Corona-Maßnahmen aus. Nun wird hitzig über eine Aufarbeitung dieser Zeit diskutiert. Die AfD im hessischen Landtag hat die Einsetzung eines Untersuchungsausschuss erreicht. Ob er überhaupt ins Arbeiten kommt und wie weit sein Auftrag geht, ist wegen eines verfassungsrechtlichen Streits aber unklar.

Was hält ein Wissenschaftler von der Debatte, der in der Krise bundesweit als Experte gefragt war? Und wie bewertet er im Rückblick die Corona-Maßnahmen, die bis heute so umstritten sind? Darüber haben wir mit dem Virologen Martin Stürmer gesprochen. Er leitet ein Labor in Frankfurt.

hessenschau.de: Herr Stürmer, derzeit sind wieder auffallend viele Menschen krank. Erleben wir eine neue Coronawelle?

Martin Stürmer: Ja, es ist tatsächlich eine Corona-Sommerwelle. Wir sehen sowohl im Abwasser als auch in den Abstrichuntersuchungen eine deutliche Zunahme der Corona-Nachweise.

hessenschau.de: Fallen in Ihrem Labor überhaupt noch viele Coronatests an?

Martin Stürmer: Coronaspezifische Untersuchungen finden nicht mehr statt. Wir untersuchen Corona im Rahmen von allgemeinen Anforderungen auf Erkältungserreger mit. Da haben wir lange Zeit gar nichts gesehen, letzte Woche waren es tatsächlich wieder zwei positive Corona-Fälle. Das ist also eine leichte Zunahme.

hessenschau.de: Ist Corona jetzt das, was es nach Meinung von Corona-Leugnern von Anfang an war: ein Infekt, der nicht schlimmer als eine Grippe ist?

Martin Stürmer: Anfänglich war es deutlich schlimmer. Wir nähern uns von einem sehr hohen Niveau langsam an das der Grippe an. Wir haben eine breite Immunität in der Bevölkerung und für viele wird eine Infektion relativ harmlos verlaufen.

Es gibt aber weiterhin Menschen, bei denen wir mit schweren Verläufen rechnen müssen. Und es gibt Anzeichen, dass es Long Covid nicht mehr ganz so häufig ist. Aber ganz sicher können wir noch nicht sein. Wer Long-Covid-Patienten kennt oder es selber am eigenen Leib erlebt hat, wird sicherlich niemandem empfehlen, sich dem Risiko auszusetzen.

hessenschau.de: Der AfD-Gutachter im Streit um den Untersuchungsausschuss zieht in Zweifel, ob es eine Pandemie überhaupt gegeben hat. Gibt es irgendeinen wissenschaftlichen Anhaltspunkt dafür, dass die Pandemie gar keine war?

Martin Stürmer: Das ist schon ziemlich respektlos und ein bisschen zynisch gegenüber den Menschen, die ihr Leben verloren haben, den Angehörigen und all denjenigen, die schwer krank waren, beziehungsweise sind.

Mal ganz abgesehen davon, dass die Pandemie nicht von Hessen ausgerufen worden ist oder vom Bund, sondern von der Weltgesundheitsorganisation. Das geschah anhand klarer Kriterien, die für jeden nachvollziehbar und nicht zu bestreiten sind.

Virologe Martin Stürmer steht in seinem Labor

Virologe Martin Stürmer in seinem Labor.

hessenschau.de: Eine Mehrheit der Hessen ist mit der Pandemiepolitik zufrieden. Viele wünschen sich aber eine politische Aufarbeitung. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Stürmer: Ich bin recht zufrieden mit dem Verlauf, wir haben viele gute Entscheidung getroffen. Aber im Nachhinein waren nicht alle Entscheidungen richtig. Eine Pandemie in diesem Ausmaß sollte vor allem nicht föderal, sondern vom Bund einheitlich gelöst werden. Eine dann zentrale Kommunikation wäre auch besser und nachvollziehbarer für die Menschen gewesen.

Eine Pandemie in diesem Ausmaß sollte vor allem nicht föderal, sondern vom Bund einheitlich gelöst werden.

Deshalb sollten wir als eine der Lehren auch einen nationalen Pandemierat einberufen, der aus vielen Experten zusammengesetzt ist.

Es ist schwierig, den Infektionsschutz und die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens unter einen Hut zu bringen und Kompromisse zu finden. Die Aufarbeitung sollte auf keinen Fall schwarz-weiß sein oder Politiker, die an der Macht waren oder Experten, die in der Öffentlichkeit Stellung bezogen haben, in Misskredit bringen wollen. Die Pandemie war für uns alle neu. Neutral und nüchtern aufzuarbeiten, was dabei falsch war und Fehler nicht zu wiederholen - da müssten wir hinkommen.

hessenschau.de: Womit lagen Sie als Experte am stärksten daneben?

Martin Stürmer: Man gibt seine Einschätzungen immer anhand der vorliegenden Daten ab. Die Wellen sind in mancherlei Hinsicht anders und weniger dynamisch gekommen, als ich sie erwartet habe. Ich habe da sicherlich auch die Menschen unterschätzt. Gerade als die Bundesnotbremse kam (Bündel von Maßnahmen im April 2021, Anm.d.Red.), war ich sehr skeptisch. Aber es hat sehr gut funktioniert.

hessenschau.de: Waren wir vielleicht zu angstgesteuert? Die Eingriffe in die Freiheit waren erheblich und beispiellos.

Man kann diskutieren, ob in einigen Fragen übers Ziel hinausgeschossen wurde. Waren zum Beispiel die Schulschließungen in der Form und in der Länge notwendig? Ich finde, es war wichtig, auch in Schulen Infektionsketten zu unterbinden, um eben die ältere Generation zu schützen.

Man wird Schulschließungen vielleicht auch bei künftigen Pandemien nicht verhindern können. Wir wissen nicht, wie so ein Virus der Zukunft aussieht.

hessenschau.de: Auch die Maskenpflicht oder die Ausgangssperren waren umstritten.

Stürmer: Die Ausgangssperren muss man hinterfragen, zumal sie extrem schwierig zu kontrollieren waren. Auch das Maskentragen im Freien kann man diskutieren. Aber man muss differenzieren. Es hat zu sehr viel Unverständnis geführt, dass man Maske tragen sollte, wenn man im Wald spazieren ging. Großveranstaltungen im Freien stellten aber ein ganz anderes Risiko dar. Auch da war die Kommunikation suboptimal, weil das Regelwerk bundesweit uneinheitlich war.

hessenschau.de: Schauen wir auf die Impfstoffe. Gegner sagen: Sie seien unnötig oder nicht wirksam genug gewesen. Oder die neuartigen mRNA-basierten Impfstoffe wie der von Biontech seien zu riskant. Das habe schwere Nebenwirkungen bis zu Todesfällen verursacht. Wie ist der Stand der Wissenschaft?

Martin Stürmer: Man muss ganz klar sagen, dass wir ohne die schnelle Verfügbarkeit der Impfstoffe nicht so schnell aus der Pandemie herausgekommen wären. Gerade die Kombination aus durchgemachter Infektion und Impfung hat diese breite Immunität in der Bevölkerung gegen die aktuell zirkulierenden Varianten ermöglicht.

Für die Krebstherapie ist die mRNA-Technik gar nicht so neu. Das ist nichts, was jemand zwischen Tür und Angel mal schnell erfunden und ohne großes Ausprobieren auf die Menschheit losgelassen hat. Wir haben sehr gute Studien. Wir haben sehr, sehr viele Menschen, die weltweit geimpft worden sind.

Wir können für die Impfstoffe wirklich dankbar sein.

Zu glauben, eine Impfung ist komplett nebenwirkungsfrei, wäre naiv. Natürlich haben Impfungen auch Nebenwirkungen, es ist ein Eingriff ins Immunsystem. Die klassische Proteintechnik, auf der andere Corona-Impfstoffe beruhen, funktionieren auch nicht ganz nebenwirkungsfrei. Aber wir können für die Impfstoffe wirklich dankbar sein.

hessenschau.de: Ungeimpfte waren eine Zeit lang von vielem ausgeschlossen, wir standen sogar kurz vor einer allgemeinen Impfpflicht. Wie bewerten Sie das im Nachhinein?

Martin Stürmer: Das ist eines der schwierigsten Kapitel, weil es auch zu einer sehr starken Spaltung in der Gesellschaft geführt hat. Ich kann natürlich als Individuum darauf bestehen, mit meinem Körper umzugehen, wie es mir passt. Die Gesamtgesellschaft kann auf der andere Seite sagen, alle sollten sich daran beteiligen, dass wir aus der Pandemie so schnell wie möglich herauskommen.

Hier hätte man sicherlich Alternativen finden können, um Menschen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, trotzdem in irgendeiner Form am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu lassen.

Ein großes Problem in dieser Frage war die Neuausbildung von Varianten, bei denen die Impfstoffe nur noch marginal einen Schutz vor neuen Ansteckungen boten. Überlegungen mit 2G oder 3G, die von der Idee her gut waren, fielen in die Übergangszeit zwischen den Varianten. Vielleicht hat es zu lange gedauert, diese Konstrukte wieder einzustellen.

hessenschau.de: Enttäuschte Hoffnungen haben wohl beigetragen, dass sich die anfangs positive Rolle der Virologen in der Wahrnehmung zumindest eines Teils der Bevölkerung geändert hat. Haben Sie auch wie ihr prominenter Kollege Christian Drosten Anfeindungen erlebt? Sie waren ja bundesweit als Experte gefragt.

Martin Stürmer: Man wurde tatsächlich zum Teil schnell als Sündenbock dargestellt. In den sozialen Medien wurde sogar unterstellt, wir hätten die Pandemie miterfunden, um uns zu bereichern. Dass uns die Bundesregierung dafür bezahlt, damit die Menschen unterdrückt werden können.

Das ist selbstverständlich totaler Quatsch. Wenn es dann aber persönlich wird, wie es Christian Drosten auf dem Campingplatz passiert ist, kann man es nicht mehr belächeln.

Bei mir ist wie bei Karl Lauterbach das Auto und auch der Zaun beschmiert worden. Da denkt man schon darüber nach, ob es richtig ist, sich so in der Öffentlichkeit zu exponieren. Ich tue es weiterhin, weil ich der Meinung bin, dass sachliche Aufklärung sehr wichtig ist. Ich kann von mir selbst auch behaupten, der Sache zu dienen und dass mein Ego nicht im Vordergrund steht.

hessenschau.de: In der Politik ist man an große Egos und auch an Streit gewöhnt. Aber in der Pandemie waren sich auch namhafte Wissenschaftler oft uneinig. Ist das nicht eine der Ursachen dafür, dass heute Menschen verunsichert sind?

Martin Stürmer: Genau so funktioniert Wissenschaft eben. Sie lebt davon, dass die gleichen Daten von unterschiedlichen Charakteren aus anderen Perspektiven mit einem anderen Erfahrungsschatz betrachtet werden. In den Diskursen finden wir dann den besten Weg und zueinander.

Hätten sich alle Menschen diszipliniert an die Vorgaben gehalten, müssten wir bei der Aufarbeitung gar nicht über so viele Probleme reden.

Das große Problem ist, dass das in der Öffentlichkeit und auch durch die Verkürzung von Aussagen in den Medien schwierig ist. Da müssen wir uns als Wissenschaftler auch hinterfragen, ob eine andere Kommunikation nicht besser wäre.

Hätten sich alle Menschen diszipliniert an die Vorgaben gehalten, müssten wir bei der Aufarbeitung gar nicht über so viele Probleme reden.

hessenschau.de: Reicht unser heutiges Wissen überhaupt aus, um die Corona-Zeit mit Blick auf die nächste Pandemie wirklich aufzuarbeiten?

Martin Stürmer: Wir haben das Virus recht gut verstanden, auch Long Covid. Wir sollten aber nicht den Fehler machen, virusspezifische Dinge in irgendwelche Pandemiepläne zu pressen. Wir müssen sehr viel grundsätzlicher anfangen, etwa mit Vorratshaltung bei den Masken und Desinfektionsmitteln.

Selbst wenn ein anderes Virus kommt: Masken schützen vor Kontakt über die Atemwege, Desinfektionsmittel schützen vor Schmierinfektionen. Wenn wir die Bevölkerung schneller mit notwendigen Hilfsmitteln versorgen können, haben wir für die nächsten Pandemien viel gewonnen.

hessenschau.de: Viele Menschen kannten solch unsichere Zeiten von Gefahr und starken Einschränkungen im Alltag nicht. Wir könnten mit der gewonnenen Erfahrung auf die nächste Pandemie besser vorbereitet sein, oder?

Da bin ich ein bisschen skeptisch. Nach der Pandemie haben meiner Meinung nach Egoismus und Respektlosigkeit in der Gesellschaft eher zugenommen. Das ist eigentlich ein trauriges Bild. Viele Menschen verwechseln Eigenverantwortung mit Egoismus. Sie wollen Regeln so definieren, wie es für sie passt.

Das ist aber genau das, was wir auch gerade in der nächsten Pandemie nicht brauchen. Hätten sich alle Menschen diszipliniert an die Vorgaben gehalten, müssten wir bei der Aufarbeitung gar nicht über so viele Probleme reden.

Dass man seine Position in der Gesellschaft akzeptiert, dass man auch bereit ist, eigene Einschränkungen in Kauf zu nehmen, damit es gesamtgesellschaftlich gut funktioniert - das müssen wir thematisieren. Es geht nur miteinander und nicht, wenn jeder nur an sich denkt.