Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (r.) und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters am 30. September 1989 in Prag.

Mecklenburg-Vorpommern Hans-Dietrich Genscher und die DDR-Flüchtlinge in Prag

Stand: 30.09.2024 00:00 Uhr

Am 30. September 1989 wurde DDR-Flüchtlingen in der deutschen Botschaft in Prag erstmals die Ausreise genehmigt. 2014 erinnert sich Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) an den bewegenden Moment.

"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...." Mehr ist nicht zu verstehen, als der damalige Außenminister Genscher am 30. September 1989 vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag spricht. Denn der Rest geht im Jubel unter. Rund 5.000 Flüchtlinge aus der DDR hatten teilweise monatelang ausgeharrt. Jetzt war der Moment gekommen: Die DDR hatte ihnen die Ausreise genehmigt.

Es war der erste Schritt in Richtung Wiedervereinigung des damals geteilten Deutschlands. Im Interview mit NDR Info erinnert sich Hans-Dietrich Genscher an die bewegende Zeit - er nennt sie den "glücklichsten Augenblick" seiner politischen Arbeit. "Es war sicherlich keine leichte Entscheidung für die DDR-Führung," so Genscher.

Zähes Ringen mit DDR-Führung

Genscher war zuvor aus New York gekommen, wo er mit dem ehemaligen DDR-Außenminister Oskar Fischer und seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse am Rande einer UN-Versammlung über das Schicksal der DDR-Flüchtlinge verhandelt hatte. Die DDR versuchte durchzusetzen, dass die Flüchtlinge in der Botschaft nicht direkt, sondern nur über die DDR ausreisen dürften. Nach Ansicht der damaligen SED-Führung wäre nur so die Souveränität des Staates eingehalten worden. Eine Forderung, die bei den Flüchtlingen großes Misstrauen aulöste, so Genscher. Schließlich hätte er ihnen versichert, persönlich die Bürgschaft zu übernehmen, "dass ihnen nichts geschehen würde". Der ehemalige Politiker hätte nie gedacht, dass sich die DDR-Führung für den Weg entscheidet, die Flüchtlinge per Zug über die DDR ausreisen zu lassen. "Denn wenn die Züge durch die DDR fahren, hat das eine große emotionale Bedeutung - und so war es dann ja auch."

Die DDR-Bürger, zu denen er vom Balkon gesprochen hatte, so Genscher, hätten ihr Schicksal in die Hand genommen, um für sich Freiheit zu erreichen. Erst später - auf seinem Rückflug nach Deutschland - sei ihm bewusst geworden, dass dies nicht ohne Wirkung auf die innere Stabilität der DDR und die Autorität ihrer Führung bleiben würde. Dann sei ihm klar geworden, dass die Flüchtlinge Geschichte geschrieben hätten.

Ärzte hatten ihm von Reise abgeraten

Die wichtigen Verhandlungen in New York hatte Genscher gegen den Rat seines Arztes geführt. Denn er ist Herzpatient. Später in Prag spürte er das gesundheitliche Risiko am eigenen Leib. "Als ich auf dem Balkon stand, hatte ich schwere Herzrhythmusstörungen", erzählt Genscher im Interview. Glücklicherweise hätte er sich an der Balustrade abstützen können. Aber in einer solchen Situation, wo es für Tausende Menschen um alles gehe, "wachsen Ihnen Kräfte zu, die sie unter normalen Umständen gar nicht haben".

Genscher stirbt am 31. März 2016 in Wachtberg-Pech im Rhein-Sieg-Kreis. Er wird 89 Jahre alt.

Dieses Thema im Programm:
NDR Info | 30.09.2014 | 13:40 Uhr