Ein Aufsteller mit Ausgaben des Buchs «Freiheit. Erinnerungen 1954 - 2021» von Ex-Kanzlerin Angela Merkel steht im Kulturkaufhaus Dussmann in der Berliner Friedrichstraße.

Mecklenburg-Vorpommern Merkel-Memoiren: Warum die Kanzlerin Putin Bier aufs Zimmer brachte

Stand: 27.11.2024 20:01 Uhr

In Mecklenburg-Vorpommern war Angela Merkel mehrere Jahre CDU-Landesvorsitzende, hier hatte sie ihren Wahlkreis: In ihren Memoiren "Freiheit. Erinnerungen 1954 - 2021" erzählt sie einige Anekdoten aus ihrer politischen Heimat - allerdings lässt sie auch vieles aus.

Von Stefan Ludmann

Gemessen am Gesamtumfang ihrer Autobiografie - 733 Seiten - spielt Mecklenburg-Vorpommern eher eine Nebenrolle. Der Nordosten ist erkennbar nicht Merkels Nabel der Welt. Dabei öffnete sich in Vorpommern ihr Weg in die Politik. Die Anfänge und wie sie zu ihrem Bundestags-Wahlkreis Rügen-Stralsund Grimmen kam, schildert Merkel noch sehr detailliert, allerdings im üblichen Merkel-Stil: eher schnörkellos und äußerst nüchtern. Die CDU im Nordosten hatte im Spätsommer 1990 noch eine Wahlkreis-Kandidatur zu vergeben. Als Frau von außerhalb und stellvertretende Regierungssprecherin im letzten DDR-Kabinett von Lothar de Maiziere (CDU) fuhr sie zur CDU nach Grimmen.

Zu spät zum Kreisverband nach Grimmen

Die Fahrtzeit hatte sie komplett unterschätzt und kam zu spät - was sie auch 34 Jahre später noch wurmt. Handys habe es damals ja noch nicht gegeben, ihre Verspätung habe sie nicht ankündigen können. Aber am Ende lief es für sie. Obwohl sie Newcomerin war, konnte sie zumindest den CDU-Kreisverband in Grimmen überzeugen. Das hatte Merkel der lokalen CDU-Größe Wolfhard Molkentin zu verdanken, der noch lange Zeit Landrat in der Region war. Es schimmert an mehreren Stellen durch, wie sehr sie ihn schätzt, ohne es zu sagen. Jahrelang bestellte sie beim ehemaligen Vize-LPG-Vorsitzenden ihre Weihnachtsgans - in ihren Memoiren spart sie sich die Information.

Vieles streift sie nur am Rande

Die Wahlkreis-Episode endete für Merkel bekanntlich mit einem Erfolg. Sie beschreibt sichtlich zufrieden, wie sie auch die zweite Hürde nahm und sich in der Kandidaten-Stichwahl schließlich trotz des Widerstands der Rüganer CDU durchsetzen konnte, ganz knapp mit nur sechs Stimmen Vorsprung. Den Wahlkreis hat Merkel bis zur ihrem Ausscheiden 2021 immer direkt gewonnen. Vieles mit MV-Bezug streift Merkel allerdings nur am Rande: das Wildschwein-Grillen mit US-Präsident George Bush in Trinwillershagen zum Beispiel oder den Bau der Autobahn A 20.

Aus Überzeugung zur Demonstration

Um die gesellschaftlichen Umbrüche nach 1990 - geprägt von Arbeitslosigkeit, bundesdeutschem Bonzentum und dem Handeln der Treuhand - macht sie hingegen keinen Bogen. Die Dauer-Krise der Volkswerft in ihrem Stralsunder Wahlkreis steht exemplarisch dafür. Merkel empört sich darüber, dass der neue westdeutsche Eigner der Werft, die Vulkan AG , für Stralsund bestimmte Subventionen nutze, um seinen Betrieb in Bremen zu sanieren. Sie habe damals - 1996 - an einer IG-Metall-Kundgebung in Stralsund teilgenommen. "Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich bei einer Gewerkschaftsdemonstration dabei war. Ich tat es aus Überzeugung und für die Beschäftigten."

Eine klare Bewertung zum Aufbau Ost verkneift sich die Ex-Kanzlerin. "Blühende Landschaften! - Blühende Landschaften?" ist das Kapitel vielsagend uneindeutig überschrieben. Darin folgt dennoch eine der seltenen Passagen, in denen Merkel Einblick in ihr Innerstes gibt - als es um ihr Leben in der DDR geht. Anlass war ein Vortrag in Schwerin 1992, bei dem Merkel über ihre ML-Arbeit (Marxismus-Leninismus) im Studium berichtete. Plötzlich seien Journalisten "in einer medialen Jagd" ausgebrochen, um diese Arbeit zu bekommen, wohl - so der Subtext - um ihr Verstrickungen ins System nachzuweisen. Die Arbeit sei damals schon längst von der Akademie der Wissenschaften vernichtet worden.

Ihre Unbefangenheit verloren

Ihre Redseligkeit in Schwerin hatte Folgen für ihren Umgang mit der eigenen Biografie: "Ich allerdings verlor meine Unbefangenheit und sprach viele Jahre über mein Leben in der DDR nur mit der Schere im Kopf, ob das, was ich sagen wollte, zu irgendwelchen Verdächtigungen führen konnte." Erst im Oktober 2021 habe sie das öffentlich angesprochen und kritisiert, dass sich "Menschen meiner Generation und Herkunft aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit gleichsam immer wieder neu beweisen" müssten.

"Familienfoto" im Strandkorb XXL

Zwei Jahre nach ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin lud sie 2007 zum G-8-Gipfel nach Heiligendamm. Der Tagungsort sei noch von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) gewählt worden, und das nicht um ihr wegen ihrer politischen Heimat Mecklenburg-Vorpommern eine Freude zu bereiten. Merkel bedauert, dass meist nur über Sicherheitskosten und Proteste berichtet worden sei. Es sei ihr, schreibt sie, damals auch um Fortschritte beim Klimaschutz gegangen. Die Schritte dazu beschreibt sie als mühsam.

Rückblickend freut sich Merkel über das Familienfoto mit den Staats- und Regierungschefs im Strandkorb XXL, die Aufnahme sei für alle "ein guter Termin" gewesen. Fast amüsant wirkt auch die Anekdote, die erklären soll, warum Russlands Präsident Wladimir Putin in Heiligendamm zu spät zum Abendessen kam. Es hat wohl am Kasten Radeberger gelegen, den Merkel ihn auf seinen Wunsch ins Zimmer bringen ließ. "Er kannte es aus seiner Zeit als KGB-Offizier in Dresden in den 1980er Jahren. Jetzt sei ihm natürlich nichts anderes übriggeblieben, als davon zu trinken, sagte er grinsend." 17 Jahre später erscheint es undenkbar, dass der Aggressor Putin in Heiligendamm durch zu viel Bier in einen vorabendlichen Schlummer versetzt wurde.

MV-Politiker erwähnt Merkel nur am Rande

Auffällig ist, dass Merkel Spitzenpolitikern aus Mecklenburg-Vorpommern kaum Beachtung schenkt. Ihr einstiger Förderer Molkentin ist derjenige, den sie am meisten erwähnt. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) taucht ebenso wenig auf wie all ihre Vorgänger - inklusive die der CDU. Selbst CDU-Größen aus dem Land wie Ex-Innenminister Lorenz Caffier erwähnt Merkel nicht. Eckhardt Rehberg - lange Jahre CDU-Chef im Land und später im Bundestag Chefhaushälter auch in der Ära Merkel - spielt nur einmal kurz eine Rolle, als es ganz zu Anfang um Merkels Wahlkreis geht.

Auch Ex-Bundespräsident Joachim Gauck blendet Merkel nahezu aus, sie erwähnt ihn nur in Zusammenhang mit dem gemeinsamen Auftritt während des WM-Finales 2014 in Brasilien. Merkel umschifft damit den Streit um Gaucks erste Kandidatur 2010, als sie und ihre Union Christian Wulff durchsetzten und den Rostocker Gauck verhinderten. Erst als Wulff 2012 zurücktrat, stellte sich auch Merkel hinter Gaucks Kandidatur. Ihr Verlag bewirbt die Memoiren mit dem Satz, sie gäben "einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht". An dieser und an andere Stelle ist das ein leeres Versprechen.

Kein Wort von der "Bierdusche" in Demmin

Auch Kurioses und Unterhaltsames spart Merkel weitgehend aus: Ihre vielen Aschermittwochs-Auftritte bei der CDU in Demmin lässt sie links liegen, auch die spektakuläre Bierdusche erwähnt sie nicht, als 2012 einem Kellner aus Versehen ein Bier in Merkels Nacken rutschte. Unterm Strich bleibt sich Merkel treu: Ihre Memoiren sind ein trockener Lebensbericht in fünf Teilen plus Epilog, in sich ruhend und eine Art Übersetzung der Merkel'schen Raute in Papierform.

Dieses Thema im Programm:
NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 27.11.2024 | 19:05 Uhr