Nordrhein-Westfalen Zehntausende protestieren gegen Sozialkürzungen
In Düsseldorf haben 32.000 Menschen gegen Kürzungen im Sozialbereich protestiert. Auslöser ist der Haushaltsentwurf der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Er sieht Einsparungen von rund 83 Millionen Euro vor. Von Sabine Tenta.
Vor einem Jahr demonstrierten in Düsseldorf 22.000 Menschen zur symbolträchtigen Zeit um fünf vor zwölf. Am Mittwoch startet die Kundgebung um fünf nach zwölf. Dazwischen liegt die Verabschiedung des Haushalts 2025 der NRW-Landesregierung aus CDU und Grünen. Der sieht massive Kürzungen im Sozialbereich vor. Knapp 83 Millionen Euro weniger haben noch mehr Menschen aus ganz NRW mobilisiert.
Mosaikschule Gladbeck: "Mehr Ansprüche und weniger Ressourcen"
Mitarbeitende der Mosaikschule in Gladbeck
Mitten in der Menschenmenge auf der Rheinwiese stehen Mitarbeiterinnen der Mosaikschule aus Gladbeck, einer städtischen Gemeinschaftsgrundschule. "Wir sind hier, um für unsere Kinder zu kämpfen", sagt Anna Tadday.
"Es gibt immer mehr Ansprüche und weniger Ressourcen, das können wir nicht stemmen. Die pädagogische Qualität leidet darunter", erklärt sie und verfolgt danach weiter das Geschehen auf der Kundgebungsbühne.
DGB NRW warnt vor "brandgefährlicher" Entwicklung
Anja Weber, Vorsitzende des DGBs NRW
Da spricht gerade Anja Weber, Vorsitzende des DGBs NRW. "Man kann soziale Gerechtigkeit nicht an- und ausknipsen wie eine Ampel", sagt sie mit Verweis auf die Regierungskrise im Bund. Sie fordert deutliche Korrekturen von der Landesregierung. Die Kürzungen seien "brandgefährlich" gerade jetzt vor den Bundestagswahlen: "Das wird den Spaltern, den Demokratiefeinden in die Hände arbeiten."
Weber fragt, wer eigentlich mit "wir" gemeint sei, wenn es heiße, "wir müssen sparen"? Ihre Antwort: "Das obere Drittel sagte den unteren 50 Prozent, dass es so nicht mehr weitergeht." Unter großem Applaus fordert sie einen Beitrag des oberen Drittels.
Frauenhäuser: "Wir stehen mit dem Rücken zur Wand."
Mitarbeiterinnen von "Gesine Intervention"
Neben der Bühne spannen zwei Frauen ein großes Plakat auf: "Stoppt Kürzungen! Frauenhäuser brauchen eine stabile Finanzierung!" Eine dritte Frau tritt hinzu, es ist Marion Steffens, die Geschäftsführerin von "Gesine Intervention", einem Zentrum für Prävention, Information, Schutz und Unterstützung bei Gewalt gegen Frauen im Ennepe-Ruhr-Kreis. "Wir stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand", sagt sie.
Marion Steffens
Es gebe immer mehr Gewalt gegen Frauen, die Frauenhäuser würden aktuell schon nicht ausreichen: "Wir haben einen Bedarf für die dreifache Zahl an Plätzen." Doch statt eines Ausbaus drohten nun Schließungen von Frauenhäusern.
Teilnehmende aus ganz NRW
Stella Göke mit Ernie und Bert
Aus ganz NRW sind an diesem Mittwoch die Demonstrierenden nach Düsseldorf gereist. Zum Beispiel Stella Göke aus Dortmund. Sie arbeitet in einer OGS und lässt Ernie und Bert für sich sprechen: "Wieso weshalb warum. Handelt jetzt, die Zeit ist um!"
Es ist eine beeindruckende Menschenmenge, die sich im Linksrheinischen versammelt, ungefähr auf Höhe der Staatskanzlei, den Landtag im Blick. Ein Jahr zuvor hatten die Wohlfahrtsverbände noch eine Demonstration vor dem Landtag veranstaltet. Aber da noch mehr Menschen als beim letzten Mal erwartet wurden, war vor dem Landtag zu wenig Platz. 32.000 seien gekommen, verkündet Moderator Christian Hermanns, die Menge feiert sich selbst mit Applaus.
Kürzungen bei der Hilfe für Geflüchtete
Judith Welkmann
"Refugees welcome! Geflüchtete brauchen Beratung!" Das hat Judith Welkmann auf einen Karton geschrieben, den sie unermüdlich in die Höhe hält. Welkmann hatte eine kurze Anreise, denn sie arbeitet in Düsseldorf für das "Psychosoziale Zentrum für Geflüchtete". Es ist eine Ambulanz für traumatisierte Geflüchtete.
"Wir selbst sind zwar nicht von Kürzungen betroffen, aber die Landesunterkünfte werden ohne Beratung bleiben." Also die Stellen, wo Geflüchtete zuerst ankommen. Kriegstraumata beispielsweise seien eine Gefahr für die Betroffenen, viele seien suizidgefährdet, erklärt Judith Welkmann. "Unter Umständen sind sie auch eine Gefahr für andere."
Laumann verteidigt Kürzungen
Nur klein zu sehen, aber gut zu verstehen: Karl-Josef Laumann
Dann geht ein lautes Pfeifkonzert los, NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat die Bühne betreten. Er erklärt, die Landesregierung habe klare Prioritäten, "wir satteln drauf bei Bildung, Kitas und im sozialen Wohnungsbau". Die Priorisierung habe verhindert, dass bei den "Ärmsten der Armen" gespart werde. In seinem Etat sei "die größte Einzelzuweisung für die Freie Wohlfahrtspflege ..." - der Rest des Satzes geht in einem höhnischen tausendstimmigen "Buuuuh" unter.
Laumann gesteht ein, dass es allein im Etat seines Ministeriums Kürzungen von 30 Millionen Euro gebe. Aber die NRW-Landesregierung habe immerhin im Gegensatz zur Bundesregierung einen Haushalt vorgelegt.
Dann zeigt der Minister noch Verständnis "für alle, die heute hier sind", er sei als Sozialpolitiker froh, dass die Kürzungen nicht "sang- und klanglos vorübergehen". Dies quittiert die Menge mit einer Mischung aus Buh-Rufen und Pfiffen. Für die Zukunft hofft Laumann auf eine bessere Einnahmesituation für das Land und wieder mehr Geld für Soziales.
"Wer kürzt, dem fehlt es an Bildung"
Mitarbeitende des ALZ, Tochter der Diakonie Mark-Ruhr.
Auf einer kleinen Anhöhe der Rheinwiese stehen Mitarbeitende der "Arbeit-Leben-Zukunft GmbH" (ALZ), einer Tochtergesellschaft der Diakonie Mark-Ruhr. Auf ihrem Plakat steht: "Wer kürzt, dem fehlt es an Bildung". Der Spruch stammt von den Jugendlichen, die von der ALZ ausgebildet werden, erklärt die Geschäftsführerin Annette Jeschak. Die Azubis hätten einen besonderen Förderbedarf, 70 Prozent von ihnen seien Menschen mit Behinderung.
Die Geschäftsführerin hat gerade Karl-Josef Laumann zugehört. Fehlt es ihm an Bildung? "Ihm fehlt es an der Umsetzung seiner Bildung", meint sie. Durch die Kürzungen des NRW-Haushalts 2025 drohten in ihrem Bereich Schließungen. Dabei würde es doch gerade die Einnahmeseite der Regierung stärken, wenn mehr Menschen mit Förderbedarf in den ersten Arbeitsmarkt integriert würden, sagt die Geschäftsführerin mit Verweis auf die Rede von Laumann.
Annette Jeschak formuliert eine Befürchtung, die vielfach an diesem Tag von den Demonstrierenden zu hören ist: "Da wird eine Struktur zusammenbrechen. Was weg ist, ist weg. Wir haben in der Corona-Pandemie gesehen, wie schwer es ist, danach wieder etwas aufzubauen."
Über dieses Thema berichten wir am Mittwoch unter anderem im Hörfunk im WDR-5-Landesmagazin Westblick ab 17.04 Uhr.
Unsere Quellen:
- Vor-Ort-Reportage der Reporterin