
Rheinland-Pfalz Holocaust-Überlebende Aviva Goldschmidt: "Habe nicht gelernt, zu hassen"
Aviva Goldschmidt hat den Holocaust überlebt. Davon erzählt sie auf Veranstaltungen, etwa im Mainzer Haus des Erinnerns. Die Geschichte einer Zeitzeugin zum Holocaust-Gedenktag.
Es ist der 1. Juli 1941, als die Deutsche Wehrmacht in die Kleinstadt Boryslaw einmarschiert. Damals gehört die Stadt zu Polen, heute zur Ukraine. Dort lebt zu dem Zeitpunkt Aviva Goldschmidt, noch unter ihrem Mädchennamen Aniela Tuch-Apfelgrün, zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder - ihre ältere Schwester ist zu Kriegsbeginn nach Kiew geflohen.
Aniela ist gerade mal drei Jahre alt, als die Nationalsozialisten alle Menschen jüdischen Glaubens in Boryslaw dazu aufrufen, sich auf einem zentralen Platz in der Stadt zu versammeln. "Die Lastwagen standen schon an der Seite, um Kinder, kranke und alte Menschen zu deportieren", erzählt Aviva Goldschmidt in einem ZDF-Interview.
Versteckt hinter einem Schrank
"Meine Mutter ist durch die Häuser gerannt. In einem Haus gab es einen großen Wäschekorb mit einem Deckel, da hat sie mich rein getan, aber ich fing fürchterlich an zu weinen." Mutter und Tochter fliehen weiter durch die Häuser - und finden zunächst Unterschlupf bei einer Bekannten der Familie. Bei ihr zuhause verstecken sie sich mehrere Wochen lang zusammengekauert hinter einem Schrank.
Zwangsarbeit und Flucht vor dem Holocaust
Während die kleine Aniela und ihre Mutter untertauchen, werden ihr Vater und Bruder gezwungen, für die Nationalsozialisten zu arbeiten. "Sie hatten beide eine Binde mit einem A - das bedeutete Arbeitsjude", erklärt Goldschmidt. "Sie arbeiteten für die deutsche Rüstung und in der Erdölraffinerie in Boryslaw." Ihr Vater versorgt das Mädchen und seine Mutter hinter dem Schrank regelmäßig mit Essen. Doch es wird bald zu gefährlich für sie, bei der Bekannten zu bleiben.
Also suchen sie sich weitere Verstecke: erst im Keller einer Schule, später in einem geheimen Bunker im nahegelegenen Wald. Dort verharren sie mit anderen Frauen und Kleinkindern.
Was mich von Anfang an geprägt hat, war der Satz meiner Mutter: Du darfst nicht weinen, nicht singen, nicht lachen, du musst immer ganz still sein, du darfst nur flüstern. Aviva Goldschmidt, Holocaust-Überlebende
In dem Bunker sind auch schwangere Frauen. "Eine Frau hat dort entbunden", erzählt Aviva Goldschmidt unter Tränen. "Sie musste ihr Kind ersticken, weil man einem Säugling nicht sagen kann, du darfst nicht weinen."
Von Nationalsozialisten verschleppt ins Ghetto
Doch am Ende hilft alles nichts. Der Bunker wird irgendwann von den Nationalsozialisten entdeckt. Sie verschleppen Aniela und ihre Mutter ins Zwangsarbeiterlager der Stadt, ins Ghetto von Boryslaw. Aniela ist dort eines der wenigen Kinder. "Die meisten waren da schon deportiert", sagt Goldschmidt. Mutter und Tochter überleben die nächste Zeit irgendwie - Anielas Vater und Bruder kommen aber ums Leben.
Eines Tages hören sie im Ghetto aus der Ferne Kanonenschüsse - die Rote Armee der Sowjetunion rückt näher. Für Anielas Mutter ein Zeichen, dass es Zeit wird, das Ghetto zu verlassen. "Sie hat gesagt, wir müssen jetzt raus, weil sonst alle, die noch im Ghetto sind, auch noch deportiert werden."
Die beiden schaffen die Flucht, vorbei an einem Soldaten der Deutschen Wehrmacht, der "so getan hat, als würde er uns nicht sehen", meint Goldschmidt. Außerhalb des Ghettos verkriechen sich Mutter und Tochter mehrere Tage lang in noch nicht verlegten Wasserrohren, bis die russische Armee Boryslaw befreit.
Umzug nach Israel
Nach Kriegsende werden Aniela und ihre Mutter auch mit der älteren Schwester wiedervereint, die in Kiew überlebt hat. In den folgenden Jahren ziehen sie mehrfach um. 1950 geht die Familie in den neu gegründeten Staat Israel. Dort bekommt Aniela auch ihren hebräischen Vornamen Aviva, den sie bis heute trägt. "Aviv bedeutet Frühling", erklärt Goldschmidt. "Ich bin mittlerweile zwar schon im Spätherbst, aber der Name bleibt", ergänzt sie schmunzelnd.
Aviva geht in Israel zur Schule und findet schnell Freundinnen und Freunde. Doch darüber zu sprechen, dass sie Holocaust-Überlebende ist, fällt ihr anfangs schwer, "weil die Israelis das nicht so richtig verstanden haben, was wir erlebt haben. Es war für sie unvorstellbar, dass man sich nicht gewehrt hat. Das war irgendwie mit Scham verbunden."
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Die Holocaust-Überlebende Aviva Goldschmidt erzählt auf Veranstaltungen ihre Lebensgeschichte. Im Mainzer Haus des Erinnerns wurde ein Interview mit ihr aus einem ZDF-Filmprojekt gezeigt.
Als Holocaust-Überlebende in Deutschland
In Israel lernt Aviva dann auch ihren späteren Ehemann kennen, den jüdischen Offizier Jürgen Goldschmidt. Er kommt ursprünglich aus Berlin. Und dorthin ziehen die beiden nach ihrer Hochzeit 1958. Keine leichte Entscheidung, in das Land zu gehen, das ihnen und ihren Familien im Holocaust so viel Leid angetan hat. Aber Aviva Goldschmidt verspürt keinen Hass, beteuert sie.
Ich bin sehr liebevoll erzogen worden und habe nicht gelernt, zu hassen. Aviva Goldschmidt, Holocaust-Überlebende
"Ich bin jedem Menschen, als ich hier nach Deutschland kam, völlig unvoreingenommen begegnet." Aviva studiert in Berlin Sozialarbeit. Als gegen Ende ihres Studiums die Berliner Mauer gebaut wird, stehen die Zeichen aber wieder auf Abschied.
Sie zieht mit ihrem Mann nach Frankfurt am Main. Hier bleiben sie, bekommen zwei Töchter. Etwa zwanzig Jahre lang arbeitet Goldschmidt als Leiterin des Sozialreferats der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
Das Vermächtnis der Holocaust-Überlebenden
Auch heute lebt Aviva Goldschmidt noch in Frankfurt. Sie ist im Rhein-Main-Gebiet regelmäßig auf Veranstaltungen, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen. "Das ist mein Vermächtnis", sagt sie. Ihr liegt es am Herzen, das Erlebte weiterzugeben, vor allem jungen Menschen. "Ich will sie motivieren, jede Ungerechtigkeit zu bekämpfen, und zu sagen: "Das lassen wir nicht zu, wir möchten so nicht sein und so leben. Never again!"
Sendung am Mo., 27.1.2025 6:00 Uhr, SWR4 RP am Morgen, SWR4 Rheinland-Pfalz