
Rheinland-Pfalz Wegen Diabetes: Streit zwischen Eltern und Waldorfschule Mainz eskaliert
Der Konflikt zwischen einem Elternpaar und der Freien Waldorfschule Mainz ist inzwischen ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Es geht um die Töchter des Paares. Sie haben Diabetes.
Die Schulkarriere von Lia und Mira S. (Namen von der Redaktion geändert) war eigentlich vorgezeichnet. Beide gingen auf die Freie Waldorfschule Mainz, in die erste und dritte Klasse. Sie sollten dort ihren Abschluss machen. Aber dann sorgte im Herbst 2022 die Diabetes-Diagnose bei beiden Mädchen für einen Schock bei den Eltern.
Diabetes bei Schülerinnen diagnostiziert
Innerhalb weniger Wochen wurde sowohl bei Lia als auch bei Mira Diabetes Typ 1 festgestellt - eine Erkrankung, bei der der Körper kein eigenes Insulin mehr produziert und dieses von außen zugeführt werden muss - über eine Spritze oder eine Pumpe.
Die Therapie ist gerade zu Beginn kompliziert, weil die Patienten erst lernen müssen, wann sie Insulin brauchen, wie viel sie essen dürfen und wie viel Energie sie verbrauchen - beispielsweise durch Bewegung.
Eltern hofften auf Unterstützung der Waldorfschule
Die Eltern von Lia und Mira, Robert und Annika S. (auch diese Namen wurden auf Wunsch der Eltern geändert), waren zuversichtlich, dass ihre Kinder auf der Freien Waldorfschule in Mainz mit Verständnis rechnen konnten. Immerhin wirbt die Schule auf ihrer Homepage damit, jedes Kind individuell zu betrachten und es "zu achten und seine Entfaltung und Entwicklung zu fördern".
Aus Sicht der Eltern kam alles anders. Vater Robert beschreibt im Gespräch mit dem SWR ein regelrechtes Martyrium, durch das seine Familie seit zweieinhalb Jahren gehe.
Vater wirft Waldorfschule Mainz Diskriminierung vor
Es begann seiner Darstellung zu Folge damit, dass sich der Klassenlehrer von Lia nicht für die Erkrankung des Mädchens interessiert habe. Er habe sogar erwogen, ein Ordnungsverfahren einzuleiten, weil Lia morgens häufiger zu spät zum Unterricht erschien oder erkrankt gefehlt habe. Die Verspätung, so Robert S., sei dadurch verursacht, dass die Insulingabe morgens schwerer zu dosieren sei und längere Zeit brauche. Krank gefehlt habe seine Tochter aber kaum.
Ein ausführliches Gespräch darüber, wie die Schule mit der Diabetes-Erkrankung umgeht, habe die Freie Waldorfschule abgelehnt. Für Robert S. noch schlimmer: Die Schule habe sich zunächst geweigert, die Gabe eines Notfallmedikaments als Verpflichtung anzusehen. Rechtlich gesehen ist das Schulpersonal aber zur Hilfe in Notfällen verpflichtet.
Eltern nehmen Kinder von der Schule
Erst nachdem die Familie gedroht hatte, die Schulaufsicht einzuschalten, habe die Schule eingelenkt - sieben Monate nach der Diagnose, berichtet der Vater. Weil der Klassenlehrer zwischenzeitlich die Kommunikation mit den Eltern komplett eingestellt hatte, entschied Familie S. in Absprache mit der Antidiskriminierungsstelle des Landes, ihre Töchter von der Waldorfschule zu nehmen.
Mit diesem Schritt wollte die Familie eigener Aussage zu Folge auch verhindern, dass die Kinder diskriminiert und in der Schule gemobbt werden. Sie sind seitdem auf staatlichen Schulen.
Jugendamt geht Meldung wegen angeblicher Kindeswohlgefährdung nach
Wenige Tage später rief das Jugendamt bei Familie S. an. Man habe eine Meldung darüber erhalten, dass Kindeswohlgefährdung vorliege. Die Meldung an das Jugendamt liegt dem SWR vor. Darin schreibt ein Mitglied der Schulführung der Waldorfschule anonym, dass der Schule Gedanken über "gewalttätiges Verhalten" und "erweiterter Suizid" (Tötung der Kinder durch die Eltern mit anschließendem Selbstmord, d. Red.) im Kopf schwirren würden.
Jugendamt findet bei Hausbesuch keine Belege für Vorwürfe
Zwei Besuche bei der Familie wenig später entkräfteten laut Jugendamt die Vorwürfe. Weil die Mitarbeiterinnen bei der Familie keine Anhaltspunkte für einen erweiterten Suizid finden konnten, kontaktierten sie die Schule und baten um konkrete Aufklärung. Die Freie Waldorfschule gestand ein, dass es für die Vorwürfe keine konkreten Anhaltspunkte gab.
Sie haben uns das Krasseste überhaupt unterstellt. Robert S., Vater
Für Familie S. hat der Konflikt mit der Schule, besonders aber die Meldung an das Jugendamt mitsamt folgender Begutachtung viel Kraft und Nerven gekostet. Vater Robert S. vermutet in diesem Zusammenhang Rache der Schule: "Auf die Idee muss man erstmal kommen, einer Familie das Krasseste überhaupt zu unterstellen."
Familie erstattet Anzeige
Um sich zu rehabilitieren, aber auch, um weiteren Schaden von sich abzuwenden, hat das Ehepaar S. Anzeige gegen Unbekannt bei der Staatsanwaltschaft erstattet - unter anderem wegen Verleumdung, übler Nachrede und Vortäuschens einer Straftat.
Die Freie Waldorfschule Mainz hat sich zu den Vorwürfen geäußert. Nachdem der freie Journalist Harald Czycholl im Dezember erstmalig über den Fall berichtet hatte, veröffentlichte die Schule eine Stellungnahme. Darin weist die Schule alle Vorwürfe zurück.
Waldorfschule weist Vorwürfe zurück
Konkret schreibt sie, dass der Lehrer sofort nach Bekanntwerden der Erkrankung Kontakt mit der Familie aufgenommen habe. Zudem habe zwei Wochen später ein Erste-Hilfe-Kurs für das Kollegium stattgefunden, in dem auch der Umgang mit Diabetes besprochen worden sei. Das Kollegium sei zudem über einen Notfallplan unterrichtet worden. Alle Kräfte gemeinsam hätten sich bemüht, "dem Kind einen sicheren Schulbesuch zu ermöglichen".
Dass der Klassenlehrer zwischenzeitlich die Kommunikation mit den Eltern abgebrochen habe, habe an der Unzumutbarkeit der "wahrgenommenen Grenzüberschreitungen" gelegen, so die Waldorfschule. Der Umfang der Nachrichten und der Umgangston durch die Eltern habe in seinem Ausmaß "übliche Formen" überschritten. Die Kommunikation habe die Schulführungskonferenz übernommen.
Schule rechtfertigt Meldung beim Jugendamt mit Fehlzeiten
Die Meldung beim Jugendamt durch die Waldorfschule schließlich erfolgte laut Schulführung wegen wiederholter unentschuldigter Fehlzeiten der Schülerinnen und dadurch begründeter Sorgen um das Kindeswohl. Zudem beschrieb die Schule die Eltern gegenüber Harald Czycholl als "[...] deutlich auffällig, weil in ihrem Verhalten unkoordiniert, aggressiv, im Gespräch deutlich ausfällig [...]." Diese "drastische" Wortwahl begründet die Waldorfschule mit "zahlreichen starken Adjektiven", die die Eltern selbst benutzt hätten.
Die Leitende Oberstaatsanwältin bestätigt die Ermittlungen. Die Akte sei der Polizei übergeben worden. Wann die Ermittlungen abgeschlossen sind und ob es zu einer Anklage kommt, ist völlig unklar. Es gilt die Unschuldsvermutung.