Sachsen Jubeltag vorm Fernseher, an Grenzen und fürs Baby-Glück
Den Tag des Mauersfalls vor 35 Jahren haben Millionen weltweit verfolgt. Denn das historische Ereignis kam vollkommen unerwartet. Überall, ob in Ost oder West, ließen Menschen an Abendbrottischen fassungslos Messer und Gabel fallen. Manche fielen sich noch am gleichen Abend an den Grenzen jubelnd in die Arme. Andere bekamen erst einen Tag später etwas von der Maueröffnung mit, weil sie privat Großes zu feiern hatten.
Am 9. November 1989 sitzt die 23 Jahre alte Simone Marx zusammen mit ihren Eltern in ihrer damaligen Wohnung in Jena. Aufgeregt sei sie damals gewesen, erzählt die gebürtige Leipzigerin 35 Jahre später. Denn der Tag ist seither mit einem unvergesslich schönem privaten Ereignis verbunden. "Meine Eltern waren zu Besuch und ich habe ihnen gesagt 'Ich bin schwanger'. Das war unser großes Thema an dem Tag", erzählt Simone Marx.
Zuerst hätten die Eltern noch Bedenken gehabt. Ob ein Kind gerade jetzt für die Studentin das Richtige ist? Doch dann habe die Freude über den Nachwuchs überwogen. Vom Mauerfall habe die Familie erst einen Tag später erfahren. "Dann haben wir uns gesagt 'Los! Jetzt fahren wir mit dem Zug nach Berlin und schauen uns das mal an, solange die Grenze offen ist'." Denn es sei unklar gewesen, ob die Grenze nicht vielleicht doch wieder geschlossen werden könnte.
Für Simone Marx ist der 9. November noch aus einem anderem Grund ein unvergesslicher Tag. An diesem Tag sagte sie ihren Eltern, dass sie schwanger ist.
Demut vor den Montagsdemonstranten
Mehrere Menschen kommen aus der Nikolaikirche in Leipzig - dem Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 in der Stadt. Tim Neise aus Hameln ist heute auf Spurensuche nach historischen Orten von damals in der Stadt. "Ich habe Demut davor, dass sich die Menschen zu den Montagsdemonstrationen versammelt haben. Den Mut, den die Leute damals hatten, den kann man in der Nikolaikirche noch atmen", sagt der 50-Jährige.
Tino Neise aus Hameln in Niedersachsen hat Demut vor den Menschen, die 1989 zu den Montagsdemonstrationen viel Mut bewiesen haben.
Den Mut, den die Leute damals hatten, den kann man in der Nikolaikirche noch atmen. Tino Neise | erlebt den Fall der Mauer als 15-Jähriger
Tim Neise hat am 7. Oktober Geburtstag. Zufälligerweise feierte er so jedes Jahr mit der DDR Geburtstag - 1989 das letzte Mal. "Ich habe in den Ferien die Militärparaden angeschaut. Das war so weit weg, wie von einem anderen Stern." Noch im Sommer 1989 habe er vor der Mauer in Berlin gestanden mit dem Gefühl "das wird immer so bleiben."
Niedersachsen fahren sofort zur Brieffreundin in die DDR
Einen Monat später habe er und seine Familie den Mauerfall mehr oder weniger verpasst. "Das ging erst am nächsten Tag los. Ich kam von der Schule und meine Mutter saß vor dem Fernseher, was total untypisch war. Die Mauer war auf und ich konnte es gar nicht glauben!" Danach habe er zusammen mit seiner Mutter deren DDR-Brieffreundin bei Schneeberg besuchen können. "Sie waren zu Weihnachten 1989 auch gleich bei uns."
Am ersten Wochenende nach dem Fall der Mauer seien viele DDR-Bürger zu Besuch im Heimatort in Niedersachsen gewesen, erinnert sich Tino Neise. "Das war etwas super Positives. Es ist schade, dass das in Vergessenheit geraten ist." Er bedauere, dass das Positive und die Dynamik von damals verloren gegangen seien. "Das Ereignis zeigt, dass Menschen zueinander finden und etwas bewegen können."
Wildfremde jubeln Arm in Arm
Auch Svenja Wolderdt aus Wolfsburg ist gerade auf Spurensuche in Leipzig. Ihre Mutter stamme aus der Stadt und sei 1961 in die BRD geflüchtet, erzählt sie MDR SACHSEN. Sie selbst spüre noch eine Verbundenheit zu Leipzig und Sachsen. Svenja Wolderdt ist 19 Jahre alt, als die Mauer fällt. Am kleinen Grenzübergang bei Zicherie und Böckwitz bei Wolfsburg seien sie und eine Freundin dabei gewesen, als sich am 9. November hunderte Menschen in die Arme fielen.
Svenja Wolderdt ist 19 Jahre alt, als die Mauer fällt. An einem kleinen Grenzübergang zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt feiert sie die Grenzöffnung mit Hunderten anderen.
Wir sind uns mit wildfremden Menschen in die Arme gefallen, weil das so eine euphorische Stimmung war. Svenja Wolderdt | feiert zusammen mit einer Freundin die Grenzöffnung
Kurzerhand habe jemand Glühwein zur Begrüßung ausgeschenkt. Das Tuckern der ankommenden Trabis verbinde sie heute noch eng mit diesem Jubeltag. "Die haben auch 'Hallo' gemacht", sagt Svenja Wolderdt und lacht. "Wir sind uns mit wildfremden Menschen in die Arme gefallen, weil das so eine euphorische Stimmung war."
Schwung von 1989 ist verloren gegangen
Diesen Schwung hätte man sich bewahren sollen, sagt Wolderdt: "Der ist uns sehr abhanden gekommen. Wir trennen gerade wieder, als dass wir gemeinschaftlich sind und sagen 'Wir schaffen das gemeinsam.'" Es sollte darum gehen, wieder das Verbindende statt das Trennende zu suchen. Die Freude über das Zusammenkommen von damals fehle ihr heute in einer immer mehr gespaltenen Gesellschaft.
Vor Mauerfall aufgeheizte Stimmung
Eine aufgeheizte Stimmung heutzutage spürt auch Torsten Hantel aus Leipzig. Damals habe er als 27-Jähriger am 9. Oktober vor Dutzenden bewaffneten Volkspolizisten gestanden, als rund 70.000 Menschen in Leipzig für Veränderungen in der DDR demonstrierten. "Wir hatten sehr viel Angst, weil wir mit der Polizei Auge in Auge standen." Die friedlich verlaufende Demo wurde zum Wendepunkt im Herbst 1989.
Torsten Hantel demonstrierte als 27-Jähriger 1989 in Leipzig für Veränderungen in der DDR.
Viele Hoffnungen haben sich nicht erfüllt
Genau einen Monat später erlebt Torsten Hantel den Tag des Mauerfalls. "Die Grenzöffnung war für uns sehr bewegend und ist ein Ereignis, um zu reflektieren, wo wir heute stehen." Wenig habe sich aus seiner Sicht erfüllt, was man sich damals erhofft hatte, sagt der 63-Jährige: "Wohlstand haben wir bekommen und eine lange Zeit der Stabilität. Aber jetzt sind da viele Fragezeichen. Es ist heute leider kein Tag zum Lachen."
Wohlstand haben wir bekommen und eine lange Zeit der Stabilität. Aber jetzt sind da viele Fragezeichen. Es ist heute leider kein Tag zum Lachen. Torsten Hantel | hat 1989 bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig mitgemacht
Damals sei das Feindbild mit dem Staat DDR klarer gewesen, heute gebe es eine unübersichtliche Anzahl von Sorgen und Nöten. "Das macht viele Menschen aggressiv, ablehnend und resigniert."