Ein Mann hält ein Laborglas in der Hand.

Sachsen-Anhalt Chemieforschung statt Braunkohle: Wie es um das Projekt in Merseburg steht

Stand: 09.07.2024 18:51 Uhr

Der Strukturwandel, der die wegfallenden Kohlearbeitsplätze ersetzen soll, ist in vollem Gange. Viel ist davon aber nicht zu sehen, so die landläufige Meinung. Wo also findet er statt? Beispielsweise in Merseburg und Delitzsch: Hier soll ein Forschungszentrum für nachhaltige Chemie entstehen. Was sich bei dem Projekt bisher getan hat.

Von Sabine Falk-Bartz, MDR SACHSEN-ANHALT
  • Das Großforschungszentrum für nachhaltige Chemie kommt nach Merseburg, das Land Sachsen-Anhalt fördert es mit 380 Millionen Euro.
  • Mehrere Städte hoffen mit Blick auf den Strukturwandel auf Zuzug.
  • Der Bund entscheidet beim Strukturwandel über Projekte mit einem Volumen bis zu 3,1 Milliarden Euro: im Straßen- und Schienenbau sowie in der Forschung und Entwicklung für die Industrie. Über weitere Projekte mit einem Volumen von knapp 1,7 Milliarden Euro entscheidet das Land Sachsen-Anhalt.

Es sieht ein bisschen aus wie im Zaubertränke-Kabinett bei Harry Potter: In großen Reagenzgläsern blubbert die Zukunft der Kunststoffproduktion vor sich hin: Algen. Das Algen-Forschungsprojekt im Labor der Fachhochschule Köthen ist Teil des geplanten Großforschungszentrums für nachhaltige Chemie. Als eines der großen Vorhaben wird es vom Bund und den Ländern Sachsen und Sachsen-Anhalt mit insgesamt über einer Milliarde Euro gefördert, 380 Millionen davon kommen aus Sachsen-Anhalt.

Das Zentrum gibt es aktuell nur auf dem Papier. Es soll aber innerhalb von zehn Jahren an den Standorten Merseburg und Delitzsch gebaut werden. An anderen Standorten wie Köthen wird bereits daran gearbeitet und geforscht.

Ein Mann steht vor einem Tisch voller Laborgläser.

Chemiker Häußler will in fünf Jahren Algenkunststoff in Leuna produzieren lassen.

Strukurwandel: So viel Geld bekommt Sachsen-Anhalt vom Bund

Sachsen-Anhalts Süden ist vom Kohleausstieg betroffen und erhält deswegen vom Bund bis zum Jahr 2038 insgesamt rund 4,8 Milliarden Euro für Investitionen in Infrastrukturen oder den Ausbau von Forschung und Entwicklung im Mitteldeutschen Revier. Das Geld fließt in den Landkreis Anhalt-Bitterfeld, den Burgenlandkreis, nach Mansfeld-Südharz, in den Saalekreis sowie nach Halle.

Köthen und Leuna als vorübergehende Standorte

Das Labor an der Fachhochschule Köthen ist nur vorübergehender Forschungsstandort. In Leuna steht eine weitere Übergangslösung. In den Leunawerken sind die Wissenschaftler in angemieteten Räumen dabei, das Zentrum inhaltlich aufzubauen. Es sind bislang nur einige Hände voll Wissenschaftler, die die Konzepte planen.

Im neuen Forschungszentrum soll Chemie international neu gedacht werden. Deswegen lautet der eigentliche Name "Center for the Transformation of Chemistry". Die Algen von Chemiker Manuel Häußler sind ein gutes Beispiel dafür, hier werden nachwachsende Ressourcen – Algen und Hefe – kombiniert, wie Häußler erklärt.

Algen produzieren Öl: Wie das funktioniert

Bislang werden Kunststoffe aus Erdöl produziert. Nur ein Drittel der Kunststoffe werden wieder recycelt, der Rest landet in der Müllverbrennung. Chemiker Häußler will das durchbrechen. Algen und Hefe ernähren sich gegenseitig, die Alge scheidet ein erdölgleiches Produkt aus, man muss sie nur noch "melken". Später lassen sich den Angaben zufolge die Bausteine des Kunststoffs chemisch wieder auseinanderbauen und neu verarbeiten, es entsteht also ein Kreislauf.

Passende Grundstücke müssen gefunden werden

Während die Algen im Übergangslabor in Köthen weiter Öl produzieren, gibt es für den Verwaltungschef Ralf Lonitz im Büro in Leuna viel zu tun. Aktuell steht er vor der Herausforderung, passende Grundstücke für das Chemieforschungszentrum in Merseburg und Delitzsch zu finden und die rechtlichen Fragen dazu zu klären. Das alles kostet Zeit, aber die beiden Städte unterstützen. Erklärtes Ziel ist es, bis zum Jahr 2038 1.000 Mitarbeiter aufzubauen, 700 Mitarbeiter am Standort in Delitzsch und 300 in Merseburg.

Und nicht nur Gebäude müssen her, sondern auch das Personal. Schon jetzt ist es international aufgestellt. Der Leiter des Algen-Forschungsprojekts, Manuel Häußler, betreibt ein Start-up in Süddeutschland. Er bringt sein Team vom Bodensee mit nach Mitteldeutschland. Doch so ganz in die Provinz, da ließen sich die Kollegen nicht drauf ein. Alle wollten nach Leipzig.

Ein Mann blickt in große gefüllte Reagenzgläser.

Das Chemiezentrum soll international arbeiten.

Woran das Großforschungszentrum für nachhaltige Chemie arbeiten will

  • Automation und Normung
  • datengesteuerte Chemie
  • Recycling mit z.B. Algenkunststoff
  • nachwachsende Rohstoffe
  • umwelt- und sozialökonomische Metriken (Bewertungsmaßstäbe)

Städte Merseburg und Delitzsch hoffen auf Zuzug

Für alle, die nach Merseburg und Delitzsch ziehen, braucht es Wohnraum und Kitas. Das lässt kleinere Städte hoffen, auch wenn Leipzig begehrt ist. Merseburg, dessen Fachhochschule später einmal der Sitz des Forschungszentrums sein soll, hat viel zu bieten, meint Oberbürgermeister Sebastian Müller-Bahr (CDU): "Merseburg [...] hat mit seiner tausendjährigen Geschichte und seinem Grün und dem Tierpark alles, was es für Familien braucht, ideale Voraussetzungen für genau solche Menschen, die da als Fachpersonen arbeiten werden."

Die Stadt – die nur einen Steinwurf von Leuna entfernt liegt – rechnet mit bis zu 7.000 Menschen mehr, die es in den nächsten 10 Jahren in die Chemieregion ziehen kann. Noch sind Wohnraum und günstige Grundstücke zu haben.

Laborgläser mit unterschiedliche farbenen Flüssigkeiten.

Bei dem Projekt werden Algen und Hefe kombiniert.

Staatssekretär hofft, dass junge Leute in der Region bleiben

Jürgen Ude, der für Strukturwandel zuständige Staatssekretär in der Staatskanzlei, erhofft sich vom neuen Chemieforschungszentrum Strahlkraft über die nächsten zehn Jahre hinaus – und das nicht nur regional, sondern für ganz Deutschland. Ude sagte MDR SACHSEN-ANHALT, er hoffe, dass junge Leute aus der Hochschule Merseburg auch nach dem Studium in der Region bleiben.

Aktuell sind 20 Prozent der Strukturwandel-Fördermilliarden noch nicht veranschlagt oder ausgegeben. Doch Staatssekretär Ude weiß, dass das Geld ausgegeben werden muss, da es sonst verfällt. An Ideen mangele es nicht, etliches ist in der Pipeline.

Diese Projekte befinden in der Planungs- bzw. Umsetzungsphase

  • Wirtschaft und Innovation: Großforschungszentrum für nachhaltige Chemie in Merseburg + Erweiterung Chemiepark Leuna
  • Attraktivität des Reviers: Umgestaltung Bahnhof Bitterfeld und Umfeld + Pestalozzischule Zeitz + Gesundheits- und Notfallzentrum "Regent" in Mansfeld-Südharz
  • Treibhausgasneutrale Energiewirtschaft: Kompetenzzentrum Wärmewende in Halle + Energiepark Bad Lauchstädt
  • Bildung und Fachkräftesicherung: Bildungscampus Weißenfels
  • Themenübergreifende Förderungen im Strukturwandel: Stabsstelle Strukturwandel Burgenlandkreis + Kreisentwicklungsgesellschaft Saalekreis

2038 soll der Strukturwandel insgesamt abgeschlossen sein. Chemiker Häußler hat allerdings weniger Geduld: Er will bereits in fünf Jahren seinen Algenkunststoff produzieren lassen. Dafür soll es auf dem Gelände von Leuna eine Produktionsstätte geben.

MDR (Sabine Falk-Bartz, Kalina Bunk)