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Sachsen-Anhalt "Dessau verschenkt ganz viel Potenzial": Kreative sollen Stadt attraktiver machen

Stand: 16.07.2024 09:26 Uhr

Was tun, wenn immer mehr Wohnungen leer stehen und die Bevölkerung überaltert? Man lockt für sechs Monate junge Berufstätige aus Großstädten an, die keinen festen Arbeitsplatz brauchen. In Dessau-Roßlau sind 15 sogenannte "Pioneers" angekommen, die nun dort arbeiten und neue Ideen für eine attraktivere Stadt einbringen sollen.

Von Astrid Pawassar, MDR SACHSEN-ANHALT
  • Wer im Homeoffice arbeiten darf, kann oft auch bestimmen, wo. Davon will nun auch Dessau profitieren.
  • Denn mit einer Initiative sollen junge Menschen zum Probewohnen in Kleinstädte gelockt werden – in der Erwartung, dass größere Firmen folgen.
  • Welche Hoffnungen noch damit verbunden sind und wie die Chancen auf einen Verbleib der "Pioniere" stehen.

Heiko Gerdes schiebt sein Fahrrad in die Wohnung eines Plattenbaus. Sechste Etage, zentral gelegen, mit tollem Blick über die Stadt. "Ich arbeite seit einigen Jahren schon für die Stiftung Bauhaus Dessau und mache Architekturführungen", sagt er. "Dadurch habe ich viele interessante Menschen hier kennengelernt, unter anderem auch einen, der mir den Kontakt zum Summer of Pioneers vermittelt hat."

Pioneers, das sind in Dessau 15 junge Leute, die bereits Berufserfahrung haben und die ihren Job mit Laptop und Telefon erledigen können. Sie kommen aus Berlin, Hamburg, Köln oder Münster. Und sie sind teilweise genervt von den Problemen der Großstadt.

Mehr Wohnqualität als in der Großstadt

"In Berlin sind die Durchschnittsmieten weit über zehn Euro. Es gibt da Wohnungen, die nicht mal über eine Toilette verfügen", erzählt Heiko Gerdes. Er findet, dass man in Dessau für viel weniger Geld – die Durchschnittmiete liegt hier bei 6,90 Euro pro Quadratmeter – wesentlich mehr Wohnqualität geboten bekommt. Für ihn ein Argument für Dessau, neben der landschaftlichen Lage mit der Mulde vor der Haustür, dem Gartenreich und dem Bauhaus.

Ich finde, die Stadt Dessau verschenkt ganz viele Potenziale. Heiko Gerdes, Teilnehmer "Summer of Pioneers" |

Aber die Gäste der Stadt sollen nicht nur an sich denken. "Das ist ganz wichtig, dass die Pioneers nicht in die Städte kommen und dann ihre Programme machen. Sondern das Schöne ist, dass die Pioneers rausgehen und mit den Bürgern ihre Projekte entwickeln", sagt Felicitas Nadwornicek. Sie ist für Neulandia vor Ort. Ein Berliner Unternehmen, das sich auf die gemeinwohlorientierte Entwicklung ländlicher Gebiete in ganz Deutschland spezialisiert hat. Ziel der sechsmonatigen Probezeit ist es, Ideen und Konzepte zu entwickeln, um Defizite auszugleichen und die Stadt lebenswerter zu machen – zusammen mit den Bürgern vor Ort.

Expertise soll bei Stadtentwicklung helfen

Eine Win-Win-Situation für Dessau. Kathrin Hinze koordiniert das Projekt für die Stadtverwaltung. Die Ursprungsidee war eigentlich ein bisschen kleiner, nämlich "dem Wohnungsleerstand entgegenzuwirken und dem demografischen Wandel etwas entgegenzusetzen, indem wir junge Leute in die Stadt holen", sagt Hinze.

Nun kann sie bei den eingeladenen IT-Fachleuten, Regionalplanern und Architekten mit einer Expertise rechnen, die der eigenen Stadtentwicklung dienen kann. Und gleichzeitig hoffen, dass die Kenntnis der schönen Seiten Dessaus nicht nur die Gäste selbst zum dauerhaftem Bleiben anregt, sondern möglichst noch Bekannte von Bekannten nach Dessau lockt.

Gerade unter dem Aspekt, dass die Leute sich hier auch gemeinwohlorientiert einbringen sollen, braucht es eine längere Zeit. Kathrin Hinze, Stadt Dessau |

Felicitas Nadwornicek vom Unternehmen Neulandia sagt jedenfalls: "In der Regel bleibt die Hälfte der Menschen, und das über Jahre hinweg. Also nicht nur ein paar Monate, sondern Jahre und teilweise bis heute."

"Dessau verschenkt Potenziale"

Darauf setzt auch das Landesministerium für Infrastruktur und Digitales. Sollte sich im kommenden halben Jahr abzeichnen, dass die Gäste sinnvolle Projekte anstoßen, ist eine Anschlussförderung durchaus möglich. Dann könnte das Dessauer Projekt Pilotcharakter für das ganze Land haben.

Darauf hofft Kathrin Hinze: "So ein Projekt braucht ja immer erstmal eine Anlaufphase. Und dann ist es im Fluss – und schon wieder zu Ende. Gerade unter dem Aspekt, dass die Leute sich hier auch gemeinwohlorientiert einbringen sollen, braucht es auch eine längere Zeit."

In der Regel bleibt die Hälfte der Menschen, und das über Jahre hinweg. Felicitas Nadwornicek, Initiative Neulandia |

Heiko Gerdes weiß schon, wo man die Stellschrauben ansetzen könnte: "Ich finde, die Stadt Dessau, zumindest aus meiner Berliner Sicht, verschenkt ganz viele Potentiale. Es gibt ganz viel tolle Architektur und Räumlichkeiten baulicher Art und auch Freiräume, die nicht genutzt werden."

Wer geht und wer bleibt?

Für Gerdes steht eigentlich schon fest, dass er bleiben will. Jedenfalls ziert seine rechte Wade ein auffälliges Dessau-Tattoo. Und auch Lisa Vogt kann sich das vorstellen. Als Humangeografin interessiert sie vor allem der bürgernahe Ansatz beim "Summer of Pioneers", frei aus dem Englischen übersetzt: Sommer der Pioniere.

Und außerdem: "Ich bin schon auch mit der Idee hierhergekommen, mal zu gucken, was es noch gibt. Weil ich schon so lange in Münster wohne und manchmal den Gedanken habe, ich könnte schon temporär oder für länger auch nochmal woanders hingehen."

Im Winter wird sich dann zeigen, wie erfolgreich und nachhaltig die Pioniere in Dessau gearbeitet haben – und wer bleibt.

MDR (Astrid Pawassar, Daniel George) | Erstmals veröffentlicht am 14.07.2024