Ein älterer Mann schaut auf einen Tablet-Computer

Sachsen-Anhalt Home statt Heim: Wie KI bei der Pflege zu Hause helfen soll

Stand: 08.07.2024 19:09 Uhr

Nach aktuellen Zahlen sind in Sachsen-Anhalt rund 170.000 Menschen auf Pflege angewiesen. Die meisten von ihnen werden zu Hause versorgt. Doch in den nächsten Jahren wird ein deutlicher Anstieg erwartet. In Halle-Neustadt soll nun mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein Heimaufenthalt so lange wie möglich herausgezögert werden.

Von Uli Wittstock, MDR SACHSEN-ANHALT

Wenn Harald Angelstein in Halle-Neustadt aus dem Fenster schaut, dann sieht er auf gepflegtes Grün. Er schätzt die Lebensqualität in seinem Umfeld und möchte hier noch möglichst lange seinen aktiven Ruhestand gestalten. Obwohl er alleine wohnt, fühlt er sich nicht allein gelassen – auch dank der Sensoren, die in seiner Wohnung installiert sind. 35 solcher Sensoren sollen dafür sorgen, dass Angelstein im Alter sicher ist und schnell Hilfe bekommt, wenn etwas passiert. Kameras sind nicht installiert.

Der Rentner hat sich auch wegen eines Vorfalls, den er selbst erlebt hat, für die Technik in seiner Wohnung entschieden. Seine Mutter war in ihrer Wohnung gestürzt und blieb zunächst ohne Hilfe. Danach kam sie in ein Altersheim. Das möchte Harald Angelstein sich ersparen.

Kein Überwachungsgefühl

Wenn er in seinem Bekanntenkreis von den Sensoren in seiner Wohnung spricht, dann kommt als erstes die Frage, ob er denn jetzt überwacht werde. Harald Angelstein hat selbst in einem Rechenzentrum gearbeitet. Er versteht die Vorbehalte, sagt aber: "Anfangs fanden das viele komisch, als lebte ich in einem Überwachungszentrum. Das kann ich ausräumen. Ich lebe nach wie vor ganz normal weiter. Aber ich kann mich duschen und habe einen Sturzsensor im Bad." Für Angelstein bedeutet das mehr Sicherheit. Gesteuert werden die Sensoren über ein Tablet, welches einfach zu bedienen ist.

Künstliche Intelligenz im Einsatz

Entwickelt wurde das System von der Firma IT Care, die von Rolf Krause gegründet wurde. Ein deutscher Internetpionier, der schon frühzeitig das Potenzial der neuen Technologien entdeckt hat. Auch er beschäftigt sich mit dem Thema Pflege, weil er durch eine persönliche Erfahrung die aktuellen Probleme als Angehöriger erlebt hat. Krause geht es mit seiner Firma also darum, dass gerade alte Menschen länger zu Hause leben können. Auch gerade, wenn sie auf Pflege angewiesen sind.

Allerdings muss Krause gegen ein weitverbreitetes Vorurteil ankämpfen: "Das Thema Überwachung ist leider ein Grundsatzproblem, weil jeder meint, dass Sicherheit immer etwas mit Überwachung zu tun hat." Doch die Sensoren liefern laut Krause weder Bilder noch Töne, sondern nur Daten. Etwa über offene Türen und Fenster, die Luftfeuchtigkeit oder ob jemand sehr lange an einer ungewöhnlichen Stelle steht. Die Daten werden dann von einer künstlichen Intelligenz ausgewertet. 

Milliardensummen für Sturzfolgen

IT Care ist keine gemeinnützige Organisation, sondern eine Entwicklungsfirma mit marktwirtschaftlicher Ausrichtung, handelt also ganz klar gewinnorientiert. Und dennoch sieht Rolf Krause auch finanzielle Vorteile für das Pflegesystem: "Derzeit geben die Krankenkassen Milliardensummen aus, allein für die Folgen von Stürzen. Diese Kosten können gesenkt werden, weil wir durch unser System verhindern, dass es so viele Stürze gibt." So schalte sich zum Beispiel automatisch das Licht an, wenn ein Betreuter das Bett verlässt.

Auch bei Demenzerkrankungen helfen die Sensoren. Immer wieder müssen Demenzkranke gesucht werden, weil sie etwa das Haus verlassen, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich wollen. Ein Türsensor kann in diesem Fall sofort das Pflegepersonal informieren.

Kurze Wege für die Helfer

Das Potenzial ist auch für die Pflegedienste enorm. Das bestätigt Michael Hirsch von der Rundum Sorglos GmbH, der mit seiner Firma ebenfalls Teil des Pilotprojektes ist. Es sieht eine besondere Voraussetzung in Halle-Neustadt, neue Wege in der Pflege zu testen: "Wir haben viele Patienten auf einer kleinen Fläche und deshalb also kurze Wege. Und wir können sehr schnell reagieren."  Während in ländliche Räumen die Fahrtwege oft sehr lang sind, kommt die Hilfe in Halle-Neustadt umgehend.

Neuer Pflegestandard

Florence Nightingale gilt als die Begründerin der modernen Pflege. Vor rund 180 Jahren – bei der Versorgung von Soldaten des Krimkrieges –stellte sie fest, dass man die Patienten mehrfach in der Nacht umlagern muss, um Druckstellen zu verhindern.

Michael Hirsch will sich von diesen strengen Vorgaben lösen, auch mit Hilfe von Sensoren im Bett: "Wir haben neue Erkenntnisse in der Pflege. Und wir wissen ganz genau, dass eine Umlagerung nicht nötig ist, sondern eine Druckentlastung. Mit den Sensoren haben wir die Möglichkeit festzustellen, ob sich jemand im Bett bewegt hat. Und wenn jemand sich bewegt, müssen wir nicht reagieren." Eine Aufgabe weniger für das Pflegepersonal also.

Weniger Routineaufgaben ergeben sich auch bei der Pflegedokumentation, da ein Teil der Daten bereits vorliegt. Das kann auch bei der Einstufung von Pflegegraden eine wichtige Hilfe sein.

Zusammenleben 4.0

Die Halle-Neustädter Wohnungsgenossenschaft "Ha-Neuer" ist der Kooperationspartner für das Projekt. Vorstandsvorsitzender Andreas Luther sucht schon länger nach Alternativen zum Heimaufenthalt für die betagten Mieterinnen und Mieter. Der Anspruch ist durchaus hoch gesteckt: "Wir müssen gemeinsam mit den Menschen Lösungen finden, diese solange wie möglich in den eigenen vier Wänden wohnen lassen zu können. Da können wir auf digitale Technik zurückgreifen."

Natürlich blickt Andreas Luther auf die demographische Entwicklung. Vor einigen Tagen wurde die aktuelle Geburtenrate für Sachsen-Anhalt veröffentlicht. Demnach wurden 2023 mit rund 14.000 Kindern so wenig wie noch nie geboren. Die Statistik zeigt aber auch, dass in Sachsen-Anhalt 2023 weniger Menschen gestorben sind.

Aus beiden Entwicklungen zieht Andres Luther eine Schlussfolgerung: "Wir müssen das Leben in den Quartieren neu organisieren, weil die Gruppe derer, die altersbedingt deutlich mehr Tagesfreizeit hat, zunehmen wird. Für das Projekt, welches das Unternehmen als "Zusammenleben 4.0" bezeichnet, will die Wohnungsgenossenschaft in nächsten Jahren 4.000 Wohnungen seniorengerecht mit neuester Technik umbauen.

Pilotprojekt für Europa

Integriert in diese Pläne ist ein neues Begegnungszentrum der "Ha-Neuer", um mehr Gesundheitsprävention anzubieten. Ziel ist es, die Eigenständigkeit möglichst lange zu erhalten, so Andreas Luther. "Wir wollen den Gesundheitszustand der Menschen so lange wie möglich erhalten, auch durch Sport-  und Bewegungsangebote in unserem Zentrum. Somit verzögern wir diese letzte Meile Pflegeheim."

Weil die Probleme alternder Gesellschaften in nahezu allen europäischen Ländern eine Rolle spielen, hat das Projekt einen europäischen Beirat. In Halle-Neustadt wird erprobt, wie die Gesellschaft auf die demographischen Herausforderungen reagieren kann. Den Beruf der Altenpflege gibt es in der Bundesrepublik erst seit 1969, als Reaktion auf die älter werdende Gesellschaft. Nun steht die Pflege erneut vor großen Umbrüchen, denn nicht nur die Medizin, sondern auch die Technologie eröffnet neue Möglichkeiten.

MDR (Ulrich Wittstock)