Eine Frau hat ein KInd auf dem Arm und lächelt in die Kamera

Sachsen-Anhalt Viele Frauen verlassen Sachsen-Anhalt – diese ist zurückgekehrt

Stand: 22.07.2024 10:18 Uhr

Dass es in Sachsen-Anhalt zu wenige junge Frauen gibt, verschärft viele problematische demografische Entwicklungen. Auch Luise Scheepens wollte als Jugendliche unbedingt weg. Mit 30 führt sie der Wunsch, aus dem Hamsterrad auszubrechen, dann doch wieder nach Quedlinburg. Mittlerweile hat sie ihre neue, alte Heimat wieder lieben gelernt und im Harz nicht nur ein Unternehmen, sondern auch eine Familie gegründet.

Von Alisa Sonntag, MDR SACHSEN-ANHALT

Als Luise und Gijs Scheepens entschieden, nach Quedlinburg zu ziehen, war niemand in ihrem Umfeld von der Idee überzeugt. Nicht einmal Scheepens Eltern, die selbst in Quedlinburg wohnen, erzählt die 35-Jährige. "Meine Eltern haben mich besorgt gefragt, ob wir uns das auch wirklich gut überlegt haben", erzählt Scheepens lachend, "die haben wahrscheinlich ihre Kinder nicht zurückkommen sehen."

Mittlerweile wohnt sie seit vier Jahren in der kleinen Stadt im Harz, hat hier zwei Kinder bekommen, ein Unternehmen aufgebaut. Und die Entscheidung für den Umzug nie bereut: "Es war hundertprozentig die richtige Entscheidung", sagt sie, die Stimme fest. Sie sitzt auf dem Boden der Geschäftsräume ihrer Kerzenmanufaktur, die knapp einjährige Tochter klettert und krabbelt auf ihr herum.

Dass die Unternehmerin zurück in ihre Heimatstadt gezogen ist, macht sie zur Ausnahme. Zu einer wichtigen. Denn: Sachsen-Anhalt fehlt es an jungen Frauen. 2020 kamen bei den 20- bis 29-Jährigen rein rechnerisch 115 Männer auf 100 Frauen.

Der Frauenmangel ist eines von vielen demografischen Problemen von ländlichen Regionen Ostdeutschlands, die in der Summe einen Teufelskreis in Bewegung setzen: Die Regionen werden unattraktiver, die Versorgung vor Ort wird schlechter, dann ziehen noch mehr Menschen weg, die Situation verschärft sich. Dass junge Frauen wie Luise Scheepens zurückkommen und dann auch noch ein Unternehmen vor Ort aufbauen, ist für das Land ein absoluter Glücksgriff.

Neu anfangen in der Großstadt

Scheepens ist im Harz aufgewachsen, sie sieht sich selbst als Harzerin. "Ich kenne die Stadt wie meine Westentasche", sagt sie. Es sei "superschön" gewesen, in Quedlinburg aufzuwachsen: "Das Schloss um die Ecke und alles atmet Geschichte." Schon als Kind habe sie die Sagen um die Region verschlungen.

Ein Platz, auf dem Verkaufsbuden stehen, Fachwerkhäuser im Hintergrund, ein paar Menschen sind unterwegs

Luise Scheepens liebt das Historische in Quedlinburg.

Trotzdem: Nach dem Abitur ist Luise Scheepens nach Potsdam gezogen. "Ich musste erstmal raus", erzählt sie. "Damals war mein Gefühl vor allem, dass hier nichts los ist." Sie habe Distanz zu dem Bekannten gewollt, eine Herausforderung. Also habe sie mit 19 angefangen, in Potsdam Kommunikationsdesign zu studieren. Es sei ein befreiendes Gefühl gewesen, in die Großstadt zu ziehen. In der Kleinstadt kenne man sich. Wenn sie in einen Laden gegangen sei, habe man sie gegrüßt, sie gekannt als "die Tochter von".

Anders in Potsdam: "Dort gehst du auf die Straße und niemand kennt dich und du hast das Gefühl, Mensch, jetzt kannst du für dich noch einmal ganz neu anfangen." Dazu seien die Möglichkeiten in der Großstadt gekommen, die sie sehr genossen habe: "Hier hätte man lange nach einem Linolschnitt-Workshop oder einer Buchdruckwerkstatt suchen müssen, an der Uni habe ich das alles gefunden."

In Potsdam gehst du auf die Straße und keiner kennt dich und du kannst noch einmal ganz neu anfangen. Luise Scheepens | ist im Harz aufgewachsen und wieder zurückgekehrt

Mit ihren Beweggründen, den ländlichen Raum zu verlassen, ist Luise Scheepens nicht alleine. So hat eine Studie aus Görlitz 2016 gezeigt, dass Frauen das kulturelle Angebot im ländlichen Raum stärker fehle als Männern. Frauen fühlen sich außerdem stärker von schlechter schlechter Infrastruktur eingeschränkt und wagen im Schnitt eher als Männer den Schritt, tatsächlich zu gehen.

Ausbrechen aus dem Hamburger Hamsterrad

Von der Zeit nach der Schule sagt Luise Scheepens, es sei ihre "Sturm und Drang"-Zeit gewesen. Sie habe sich ausprobieren wollen, reisen. Ein halbes Jahr habe sie in Australien gelebt und in einer Kunstgalerie in Perth gearbeitet. Nach dem Studium in Potsdam zog Luise Scheepens nach Hamburg für einen Job bei einer renommierten Werbeagentur. Als Großstadt in Westdeutschland hat Hamburg das Problem mit dem Frauenmangel nicht. Auf 100 Frauen kommen in der Stadt knapp unter 100 Männer.

In Hamburg fügten sich dann die Puzzleteile ihres jetzigen Lebens zusammen. Denn in der Agentur lernte die Harzerin Gjis Scheepens kennen, mit dem sie jetzt verheiratet ist. Und dort fanden beide auch die Motivation, ihr Leben zu veändern. Denn: Während die Arbeit in der Werbeagentur zu Anfang vor allem ein Abenteuer war, stellte sich für beide früher oder später heraus, dass sie so nicht leben wollten. "Ich war damals Art Director und er war Texter", erzählt Luise Scheepens, "und es war viel Arbeit. Richtig viel Arbeit." Sie hätten zehn, zwölf Stunden am Tag gearbeitet. Und das oft an mehr als fünf Tagen in der Woche. Das sei ihre Motivation gewesen, "rauszukommen".

Eine Frau steht in der geöffneten Tür eines Backsteinhauses

Die Geschäftsräume von Scheepens Unternehmen im Quedlinburger Wipertihof sind groß und haben historisches Ambiente.

Und so begann das Paar, an Ideen für ein eigenes Unternehmen zu feilen. Von Naturkosmetik über Wein und Emaille sei alles dabei gewesen. Bis ihr Mann ihr zum 28. Geburtstag eine selbstgegossene Kerze geschenkt habe. "Ich habe mich voll gefreut. Da wussten wir: Das ist es!" Die Idee für das eigene Produkt war geboren. Was allerdings fehlte: Platz. "Irgendwann sah unsere kleine Wohnung in Hamburg eher aus wie ein Lager, voller Kisten und Kartons von all unseren Experimenten", erinnert sich die Unternehmerin.

Ein zusätzlicher Raum war im teuren Hamburg allerdings schwer zu finden: "Irgendwann haben wir uns etwas auf einem stillgelegten Bahnhof angeschaut, so ein ehemaliger Kloraum, vielleicht fünf Quadratmeter für 500 Euro im Monat." Da habe es dann Klick gemacht, erzählt Scheepens. Sie hätten sich gefragt, ob sie wirklich in Hamburg bleiben müssten – oder ob es nicht vielleicht doch besser wäre, zu gehen.

Alle Wege führen nach Quedlinburg

Dabei stand Quedlinburg allerdings nicht von Anfang an oben auf der Liste. "Wir haben uns langsam an Quedlinburg herangetastet", sagt Luise Scheepens lächelnd. Zuerst hätten sie sich ein Haus in Leipzig angesehen. Dann eins in Teuchern. Und schließlich eins in Osterwieck. Sie sei es gewesen, die sich zuerst gegen Quedlinburg gesträubt habe, gibt sie zu: "Ich habe so ein bisschen gedacht: Wieder zurückgehen in dieses kleine Nest – wirklich?"

Ich habe so ein bisschen gedacht: Wieder zurückgehen in dieses kleine Nest – wirklich? Luise Scheepens | ist im Harz aufgewachsen und dorthin auch wieder zurückgezogen

Mittlerweile ist die junge Frau allerdings begeistert von ihrer neuen alten Heimat. Nicht nur, weil hier ihre Eltern wohnen und die Kinder mit viel Grün und weniger lautem Straßenverkehr aufwachsen können. Sie sagt: "Die historischen Persönlichkeiten der Stadt, die Sagenwelt des Harzes.. Quedlinburg hat einfach eine Strahlkraft, die ihresgleichen sucht im Harz." Sie hätten sich auch Häuser in kleineren Dörfern in der Region angeschaut. Und dabei festgestellt: Für sie ist das keine Option. "Da geht man die Straße lang und da ist nichts los, da passiert einfach nichts. Das war nicht tragbar für uns."

Luise Scheepens sagt das aus ihrer privaten Perspektive. Aber auch demografisch muss man zwischen einer Stadt wie Quedlinburg und den meisten ländlichen Regionen in Sachsen-Anhalt klar unterscheiden. Die demografischen Probleme Frauenmangel, Urbanisierung und Wegzug treffen den ländlichen Raum. Zwar können auch kleinere Städte davon betroffen sein – Quedlinburg steht aber im Vergleich mit Städten wie beispielsweise Bitterfeld gut da.

Ein wichtiger Grund dafür ist der Tourismus in Quedlinburg und dem Harz als Region. Er stärkt die Wirtschaftskraft in der Region, schafft Jobs, macht die Regionen attraktiv. Gleichzeitig ist die Region Harz auch aktiv bemüht, Menschen in die Region zu locken. So gibt es im Harz nicht nur, wie in vielen Städten Sachsen-Anhalts, rund um Weihnachten die sogenannten Rückkehrertage, bei denen Menschen sich über Jobs und Lebensbedingungen in der Region informieren können. Zusätzlich gibt es mit Heimvorteil Harz ein Netzwerk, das den Harz bewirbt und Menschen unterstützt, die in die Region ziehen wollen.

Regionen und Rückkehrer profitieren voneinander

Sabine Böttcher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. Sie findet, dass es ganz gesund sei, für die Ausbildung wegzugehen. Aber: "Dann braucht es eine Rückkehrerkultur, eine Willkommenskultur. Man braucht so einen Anker, wo man das Gefühl hat, wenn man zurückgeht, kann man es schaffen."

Es braucht eine Rückkehrerkultur, eine Willkommenskultur. Sabine Böttcher | Sozialwissenschaftlerin aus Halle

Es sei wichtig, dass junge Menschen die Erfahrung machen würden, dass es Raum für sie gibt, Orte, an denen sie sich ausleben könnten und kreativ sein. Genau das, was auch Familie Scheepens gesucht hat. "Im ländlichen Raum gibt es eigentlich so viel Platz, es gibt geringe Mieten, da wäre meiner Meinung nach so viel möglich, auch für junge Unternehmen", sagt die Wissenschaftlerin. Um das Potenzial ausschöpfen zu können, müssten die Regionen aber auch die Rahmenbedingungen schaffen, dass junge Menschen wieder in ihre Heimatregionen zurückkehren wollten. Dann könnten die Heimatregionen wiederum profitieren von den neuen Perspektiven jener, die woanders waren.

So sieht das auch Luise Scheepens. Natürlich gebe es hier und da einen Clash, wenn junge Leute mit tausend Ideen in die Region kämen, sagt die Unternehmerin. Allerdings: "Wir haben gezeigt, dass es geht. Wir haben ein Stück unserer Kultur aus Hamburg mitgenommen, ein bisschen Schwung."

Inspiration bei täglichen Waldspaziergängen

Bei Familie Scheepens war es letztendlich Gjis, Luise Scheepens Mann, der gesagt habe: Warum denn eigentlich nicht Quedlinburg? "Ich bin ihm bis heute dankbar, dass er das vorgeschlagen hat. Ich alleine wäre glaub ich nicht zurückgezogen", sagt Scheepens. Aber ihr Mann sei Feuer und Flamme gewesen – und habe sie angesteckt. Es sei ein bisschen "lustig" gewesen, wider besseren Wissens des gesamten Umfelds so eine Entscheidung zu wagen. Ihre Freundinnen und Freunde sowie die Familie hätten allesamt an der Entscheidung gezweifelt.

Jetzt mag ich es, dass mich hier so viele kennen. Als wäre man in eine große, entfernte Familie eingebettet. Luise Scheepens | ist im Harz aufgewachsen und dorthin auch wieder zurückgezogen

Am Anfang sei es ein surreales Gefühl gewesen, wieder in der Heimat zu leben. Sie habe die Stadt wieder neu lieben gelernt – auch durch den unverfälschten Blick ihres Mannes, der Niederländer ist: "Das hat in mir wieder die Begeisterung für die schönen Ecken hier geweckt. Manchmal verliert man ja so ein bisschen den Blick für das Schöne, das einen umgibt." Jetzt könne sie wieder sehen, wie pittoresk und idyllisch Quedlinburg sei.

Kerzen in Gläsern werden von Händen präsentiert, auf den Kerzen steht unter anderem "Fuchsfurz"

Die Inspiration für die Duftkerzen des Unternehmens Voswald kam aus dem Harzer Wald.

Was ihr als Jugendliche nicht gefallen habe, empfindet sie nun als großes Plus: "Jetzt mag ich es, dass mich hier so viele kennen. Man kommt sich hier vor, als wäre man in eine große, entfernte Familie eingebettet." Wenn sie etwas brauche, wisse sie immer, an wen sie sich wenden könne. Am meisten genießt die junge Familie allerdings, die Natur direkt vor der Haustür zu haben. "Wenn ich paar Schritte aus der Stadt rausgehe, kann ich sofort im Wald spazieren. Das ist unheimlich schön." Bei ihren täglichen Spaziergängen im Wald hätten sie und ihr Mann schließlich auch die Idee für die eigenen Duftkerzen gehabt, die nach Tieren des Waldes benannt und passend illustriert sind.

Was Luise Scheepens vermisst

Natürlich gibt es auch Dinge in Quedlinburg, mit denen die junge Frau hadert. Das eine ist der Busfahrplan. Noch hat Luise Scheepens keinen Führerschein, nur ihr Mann fährt das gemeinsame Auto. Bevor sie in Quedlinburg gewohnt hat, habe sie keinen Führerschein gebraucht, sagt sie. "Aber hier merke ich schon langsam, dass die Busverbindung nicht die geilste ist und man ohne Führerschein nicht so spontan sein kann, wie man will." In Luise Scheepens Fünf-Jahres-Plan steht die Fahrprüfung fest drin.

Als die Unternehmerin von der anderen Sache erzählt, die sie in Quedlinburg vermisst, muss sie lachen. Eigentlich sei es nichts Wichtiges, sagt sie. Eine Kleinigkeit. Aber dennoch gewöhne man sich auch an die schönen Dinge, die Hamburg zu bieten habe. Dinge wie den besten Latte Macchiato der Stadt, den es nur beim Bäcker nebenan gegeben habe. "Mit dreifachem Karamellsirup-Sahne-Schokowürfel-Topping!", lacht sie. So etwas gebe es in Quedlinburg nicht. Eigentlich aber auch kein Problem, meint sie. Denn das sei tatsächlich das einzige, was sie in Quedlinburg vermisse.

MDR (Alisa Sonntag) | Erstmals veröffentlicht am 21.07.2024