Produktives Lernen

Sachsen-Anhalt Schulabschluss nachholen: Duales Bildungsangebot als zweite Chance

Stand: 15.09.2024 17:59 Uhr

Die Zahl der Schulabbrüche ist in Sachsen-Anhalt besonders hoch. Nullbock, Mobbing oder Schwierigkeiten, dem Lernstoff zu folgen. Das sind nur einige Gründe. Was das Regelschul-System nicht schafft, schafft das duale Bildungsangebot. Über das "Produktive Lernen" – kurz: "PL" machen 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler ihren Hauptschul-Abschluss.

Von Beatrix Heykeroth, MDR SACHSEN-ANHALT

Ian steigt aus der Straßenbahn in Magdeburg Neustadt. Er ist 15 und für sein Alter recht groß. Der Kopf ist leicht nach unten gebeugt. Er wirkt schüchtern. Auch wenn er redet, redet er leise und bedachtsam. "Vor einem Jahr habe ich mich schon einmal für 'PL' beworben, aber da wurde ich abgelehnt." Warum? "Ich war mit 14 noch zu jung."

Mobbing und Hänseln, keine Lust auf Schule

Ian ist weiter in seine alte Schule gegangen. Ein Jahr hat er gewartet. Jetzt hat es geklappt. Er hat einen der begehrten Plätze an der Gemeinschaftsschule Leibniz.

Ian Bader

Ian Bader will mit "PL" seinen Hauptschulabschluss nachholen.

Was war sein Problem? Ian erzählt etwas stockend: "Ich hatte in der Schule Probleme mit Mitschülern, wurde gehänselt. Ich war dann oft nicht in der Schule und wenn, dann habe ich meist nicht verstanden worum es geht, weil ich nicht mitgekommen bin."

Lehrer nehmen sich mehr Zeit für Schüler

Am "Produktiven Lernen" gefällt Ian, dass in kleineren Gruppen gearbeitet wird. Ein Lehrer betreut zwölf Schülerinnen und Schüler. Für jeden wird ein individueller Lernplan erstellt. Statt Noten gibt es Punkte. Zwei Tage pro Woche Schule. Drei Tage arbeiten in einem Betrieb.

Aber noch sind die neuen Achtklässlerinnen und -klässler in der sechswöchigen Orientierungsphase. "Diese Orientierungsphase dient hauptsächlich dazu, dass die Teilnehmer sich erstmal selbst finden und analysieren können. Wo lagen ihre Probleme, was hat sie hierhergebracht. Zweite Sache ist die Gruppenbildung. Dass sich ein Team bildet, weil die Schüler aus völlig verschiedenen Schulen kommen", sagt Lehrer René Scheer.

Produktives Lernen

Lehrer Rene Scheer (links) unterstützt Ian Bader (rechts) beim Lernen.

Überraschungsbesuch im Unterricht

Es ist 8 Uhr. Der Unterricht beginnt. Wie immer stellt Lehrer René Scheer jedem Einzelnen die Frage, wie es ihm heute geht. Es klopft an der Tür. Tom Moschadin, ein ehemaliger PL-Absolvent, betritt den Raum. Auch er ging bei René Scheer in die Klasse. Beide begrüßen sich herzlich. "Es kommt immer mal wieder vor, dass ehemalige Schüler vorbeischauen", berichtet der Lehrer.

Dankbarkeit für zweite Chance

Tom erzählt den neuen Achtklässlern, dass er im Straßenbau arbeitet und im zweiten Lehrjahr ist. Auch Tom hatte Schwierigkeiten in der Regelschule. "Nullbock" sagt er kurz und knapp. Der 23-jährige ist dankbar für die Chance, die er durch das "Produktive Lernen" erhalten hat. "Hätte ich das nicht angenommen, wäre ich bestimmt auf der Straße gelandet und würde nichts haben. Das 'Produktive Lernen' war das Beste, was mir passieren konnte."

Produktives Lernen

Tom Moschadin hat über "PL" seinen Abschluss nachgeholt und macht nun eine Lehre aus Straßenbauer.

Vom Projekt-Status ins neue Schulgesetz

An 24 Schulen in Sachsen-Anhalt gibt es dieses Bildungsangebot seit mehr als 20 Jahren. Wie erfolgreich "PL" ist, belegt eine Studie der Universität Magdeburg von 2022. Rund 450 Schülerinnen und Schüler sowie über 70 Lehrkräfte des "PL" wurden dazu an allen Standorten befragt. Das Ergebnis: "Rund 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die bisher am Modellprojekt teilgenommen haben und mit hoher Wahrscheinlichkeit das reguläre Schulsystem ohne Abschluss verlassen hätten, erreichten durch das ‚Produktive Lernen in Schule und Betrieb‘ einen ersten anerkannten Schulabschluss", sagt die Leiterin der Untersuchung, Raphaela Porsch.

Außerdem belege die Studie, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Leistungen deutlich verbesserten und viel aktiver bei Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz sind – im Vergleich zu Schülerinnen und Schüler im Regelsystem.

2023 endete die EU-Förderung

Bis 2023 wurde das Projekt durch den Europäischen Sozialfonds gefördert – jetzt wird das "Produktive Lernen" ins neue Schulgesetz aufgenommen.  "Für uns bedeutet das eine Erleichterung unserer Arbeit", sagt Lehrer René Scheer. "Wir haben nicht mehr die alten bürokratischen Hürden, die sich aus dem Europäischen Sozialfonds ergaben. Es ist aus dem Projektstatus überführt worden ins Regelschulsystem. Wir haben dadurch eine hohe Anerkennung erfahren, weil man es nun im Gesetz fest verankert hat."

Produktives Lernen

Verschiedene Praktika sollen bei der späteren Berufswahl helfen.

Vorteile der verschiedenen Praktika

Zurück zu Ian. Er ist sich noch nicht sicher. Wird er mal Koch, Erzieher oder Straßenbauer? Aber dazu dienen ja die verschiedenen Praktika, die er in den nächsten zwei Jahren machen wird. Jetzt ist er erstmal für zwei Wochen auf einer Baustelle in Dolle. Und wie ist es so? "Ganz ok, am ersten Tag geht es immer entspannter zu, aber dann werden die Aufgaben immer mehr", erzählt er.

Übrigens: Das "Produktive Lernen" hat noch einen weiteren Vorteil. Wenn die ehemaligen Absolventinnen und Absolventen ihre Lehre machen, brechen die wenigsten ab. Sie wissen, was auf sie zukommt – dank der monatelangen Praktika.

MDR (Beatrix Heykeroth, Moritz Arand)