Ein Rollstuhlrad in einer Schiene.

Sachsen-Anhalt Wo es in Sachsen-Anhalt mit der Barrierefreiheit hapert

Stand: 19.07.2024 06:53 Uhr

In Sachsen-Anhalt sind viele Orte nur schwer für alle zugänglich. Auf einer Karte wurden nun Probleme von Bürgerinnen und Bürgern zusammengetragen. Hier gibt es die Bilanz des Projekts "Stopp! Wo kommst du nicht voran?"

Von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV

In Sachsen-Anhalt sind zahlreiche Orte nicht barrierefrei; ein großes Problem sind Behinderungen für Rollstühle, Kinderwagen und Rollatoren. Das zeigen die Ergebnisse einer Recherche von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV. Auf einer interaktiven Karte, Teil des sogenannten CrowdNewsroom, haben Menschen eingetragen, wo und wie sie im Alltag behindert werden.

Barrierefreiheit in Sachsen-Anhalt: Viele Orte schwer zugänglich

Rund ein Drittel aller Einträge in Sachsen-Anhalt bezieht sich auf Orte, die nur schwer begehbar oder befahrbar sind. Darunter fallen in den meisten Fällen Treppen beziehungsweise Stufen, die vielen Menschen den Zugang zu Geschäften, Arztpraxen und Restaurants, aber auch Ämtern und Schulen erschweren. So fehlt etwa ein barrierefreier Zugang zur Kinderbibliothek in Dessau oder zu einer Grundschule in Tangermünde. "Es ist traurig, dass ich nicht einmal mein Kind zur Schule bringen kann", beklagt sich eine Mutter im Rollstuhl im Gespräch.

Zur Recherche

Tangermünde, Dessau, Halberstadt: Mit mobilen Redaktionen vor Ort und dem CrowdNewsroom haben MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV Hindernisse zusammengetragen und debattiert, wie Orte zugänglicher werden.

Viele weitere ärgern sich über Straßen und Gehwege, die nur beschwerlich zu überqueren sind. Kopfsteinpflaster, zu hohe Bordsteine, zugeparkte Überwege, fehlende Ampeln oder schmale, unebene Fußgängerwege. Das betrifft auch sanierte Orte, wie die Zerbster Straße in Dessau. Dort wurde eine Ablaufrinne in die Straße eingelassen, die sich als Stolperfalle erweist: "Auch wenn der Rollstuhl geschoben wird, ist das nicht einfach. Die kleinen vorderen Räder des Rollstuhls verkanten sich", schreibt eine betroffene Person.

Da fällt einem das Gebiss raus. Teilnehmer im CrowdNewsroom | über schottrige Wege auf dem Friedhof

An mehreren Orten wurde auch die Zugänglichkeit zu Friedhöfen kritisiert, deren Wege uneben oder schottrig seien. "Da fällt einem das Gebiss raus!" bemängelt beispielsweise ein Mann, der mit seiner Mutter, die im Rollstuhl sitzt, regelmäßig den Friedhof in Tangermünde besucht. Für Menschen mit Rollator oder Rollstuhlfahrer ein großes Problem.

Halberstadt: Aufzug am Domplatz als gutes Beispiel

Tangermünde birgt den Projekterkenntnissen nach rund um bauliche Barrierefreiheit besonders viele Herausforderungen: Durch das historische Kopfsteinpflaster und viele denkmalgeschützte Gebäude mit Treppen in der Altstadt sind zentrale Orte für Rollstuhlfahrer nur schwer oder gar nicht selbstständig passierbar.

Aus den Gesprächen und Einträgen geht hervor, dass in allen drei Städten, in denen mobile Redaktionen präsent waren, in den vergangenen Jahren einige Baudenkmäler für gehbeeinträchtigte Menschen zugänglich und erfahrbar gemacht wurden.

In Halberstadt wurde beispielsweise der im Boden versenkbare Lift am Domplatz gelobt, der einen guten Kompromiss zwischen Denkmalschutz und Barrierefreiheit darstellt. "Das ist eine großartige Lösung", schreibt ein Anwohner. Solche innovativen Lösungen sind der Recherche zufolge jedoch eher die Ausnahme als die Regel.

Bus und Bahn in Sachsen-Anhalt für viele keine Erleichterung im Alltag

Über alle drei Städte hinweg haben Bürgerinnen und Bürger den öffentlichen Nahverkehr kritisiert: Straßenbahnen seien nicht barrierefrei, hielten an Stellen, die für Rollatoren und Rollstühle schwer zugänglich seien oder seien zu schlecht getaktet. "Der Einstieg ist mit, aber auch ohne Rollator nur schwer möglich. Die Abstände sind zu groß und zu hoch", berichtet ein Betroffener. Eine andere Bürgerin schreibt, die Straßenbahn halte direkt auf der Fahrbahn, deshalb sei ein Ausstieg mit Rollator nicht möglich. "Ich muss zum Bahnhof fahren, dort aussteigen und dann zurücklaufen."

Mich haben schon einige Male nette Menschen die Treppe hochgeschleppt. Angenehm ist das nicht. Bericht eines Rollstuhlfahrers |

Ein Bürger über den Bahnhof Halberstadt

Auch die Zugänglichkeit von Bahnhöfen wird mehrfach kritisiert: Obwohl schön und größtenteils barrierefrei, gebe es am Bahnhof Halberstadt häufig defekte Fahrstühle, was Rollstuhlfahrern große Schwierigkeiten bereite. Ein Bürger, der im Rollstuhl sitzt, schreibt: "Mich haben schon einige Male nette Menschen die Treppe hochgeschleppt. Angenehm ist das nicht".

Dem Bahnhof Meinsdorf fehlt den Nutzerinnen und Nutzern zufolge ein Aufzug und am Bahnhof Dessau gibt es eine gefährliche Lücke zwischen S-Bahn und Gleis. Das Resümee: Viele Menschen müssen muss ganz genau planen, wo sie ein- und aussteigen.

Mehrere Meldungen aus ganz Sachsen-Anhalt beklagen zudem das Fehlen einer Bus- oder Bahnanbindung auf dem Land.

Dessau und Halberstadt: Öffentliche Toiletten fehlen

Knapp zehn Prozent aller Einträge beziehen sich auf fehlende öffentliche barrierefreie Toiletten. Aus vielen geht hervor, dass sich Bürgerinnen und Bürger bereits dafür eingesetzt haben, dass diese Hürde beseitigt wird – offenbar bisher erfolglos.

Im Dessauer Zentrum gebe es bisher keine barrierefreie öffentliche Toilette, teilen mehrere Nutzerinnen und Nutzer mit. Eine barrierefrei ausgeschilderte Toilette im Dessauer Rathaus-Center ist laut Anja Clement vom Behindertenbeirat Dessau für einige Rollstühle zu eng. Zudem hinge der Zugang an den Öffnungszeiten des Centers. Eine barrierefreie öffentliche Toilette direkt vor dem Rathaus ist nach Angaben mehrerer Bürgerinnen und Bürger seit Jahren geschlossen.

Halberstadt: Verbände kritisieren Stadtplanung

Auch in Halberstadt fehlt der Recherche nach seit Jahren eine zentral gelegene öffentliche Toilette, die für alle zugänglich ist. Dieses Problem wurde dem Stadtrat bereits 2022 von Kerstin Römer, Vorsitzende des Rolli-Clubs Halberstadt, vorgetragen. Doch ohne Erfolg.

In einem Eintrag von Klaus-Dieter Schatter vom Sozialverband Halberstadt heißt es, man habe als Kreisvorstand schriftlich eine öffentliche barrierefreie Toilette bei der Sanierung einer Straße im Zentrum gefordert. Doch der Oberbürgermeister habe geantwortet, diese würde die Sichtachse stören. "Da wird ein neuer Wohlfühlort geschaffen, mit Spielgeräten, Sitzecken, Grünen Oasen, aber ohne Möglichkeit seine Notdurft zu verrichten. Unglaublich", schreibt Schatter.

Bänke zum Ausruhen fehlen in Halberstadt und Dessau

Die Stadt Halberstadt verweist darauf, dass die Planung unter Beteiligung der Öffentlichkeit stattgefunden habe und Toiletten keine Hauptforderung gewesen sei. Es seien außerdem in näherer Umgebung öffentliche Toiletten verfügbar. Aktuell werde geprüft, im künftigen Stadtcafé eine öffentliche Toilette einzurichten, weiter sei in den Nebenanlagen des Breiten Weges die Einrichtung denkbar.

Ein weiterer Kritikpunkt, der im CrowdNewsroom häufiger geäußert wird, sind fehlende Bänke in Parks und auf öffentlichen Plätzen. "Der Tierpark ist wirklich sehenswert, aber da ist keine einzige Bank zum Ausruhen", beklagt etwa eine Bürgerin aus Dessau, die mit einem Rollator unterwegs ist.

Auf dem Marktplatz in Halberstadt hätten vor ein paar Jahren noch mehr Bänke gestanden, erzählen zwei Frauen. Um sie herum sind alle Bänke belegt. Warum kann man diese Bänke nicht wieder dort hinstellen und somit mehr Sitzmöglichkeiten schaffen, fragen die beiden.

Dessau: Baubürgermeisterin bietet Austausch an

In Dessau konnten Bürgerinnen und Bürger im Rahmen eines Teilhabe-Forums von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV vor Ort über Hindernisse in ihrem Alltag mit Verantwortlichen aus der Landes- und Kommunalpolitik und einer Vertreterin des Bauhaus Museums sprechen. In der Diskussion kamen Themen, die im CrowdNewsroom gemeldet worden waren, zur Sprache.

Man muss die Menschen darauf ansprechen, sie informieren und somit dafür sensibilisieren. Kerstin Römer | Rolli-Club Halberstadt

Die Dessauer Baubürgermeisterin Jaqueline Lohde suchte den direkten Austausch mit Betroffenen: "Ich möchte von Ihren Erfahrungen zehren und schreibe mit", sagt Lohde ins Publikum. Zukünftige Bauanträge könne sie beeinflussen. Man solle sich dafür direkt an sie wenden. CORRECTIV fragte Jaqueline Lohde, welche Schlüsse sie aus dem Austausch und weiteren Einträgen gezogen habe. Bisher ließ Lohde die Anfrage unbeantwortet.

Die Behindertenbeauftragte Dessaus, Daniela Koppe, schreibt, sie habe aus den zahlreichen Einträgen im CrowdNewsroom auch Neues mitnehmen können: "Auch wenn mir einige Probleme bereits bekannt waren, bin ich auf andere tatsächlich durch Ihre Karte aufmerksam geworden", sagt sie. Die Diskussionsveranstaltungen des Projekts "Stopp! Wo kommst du nicht voran?" seien ein zusätzliches Highlight gewesen, da hier ganz konkrete Probleme angesprochen und diskutiert werden konnten, so Koppe.

Halberstadt lässt Bürgerhinweise prüfen

Die Stadt Halberstadt lässt die 41 Einträge über Hindernisse im öffentlichen Raum durch die verantwortlichen Fachbereiche prüfen. Die Pressestelle der Stadt teilt uns mit: "Manche Anmerkungen sind uns durchaus bekannt und werden bereits bearbeitet."

Kerstin Römer vom Rolli-Club Halberstadt sagt MDR SACHSEN-ANHALT: "Man muss die Menschen darauf ansprechen, sie informieren und somit dafür sensibilisieren. Irgendwo vielleicht werden sich Entscheidungsträger daran erinnern und vielleicht bei ihrer Entscheidung 'umdenken' und dieses wichtige Thema berücksichtigen."

Tangermünde baut Ampel

In Tangermünde gab es seitens des Stadtrats bisher keine Rückmeldung zu den eingetragenen Hindernissen. Bürgermeister Steffen Schilm kam jedoch während des Projektes in die mobile Lokalredaktion und suchte dort den Austausch mit betroffenen Bürgerinnen und Bürgern.

Wie sich im Gespräch herausstellte, wird zumindest eines der eingetragenen Hindernisse aktuell von der Stadt behoben: An einer stark befahrenen Straße, die viele ältere und gehbeeinträchtige Menschen überqueren müssen, um eine barrierefreie Arztpraxis zu besuchen, wird nun eine Ampel gebaut.

Duška Roth und Chiara Swenson (CORRECTIV), MDR (cfr)