Mario Voigt (CDU), Björn Höcke (AfD), Bernd Stengele (Grüne), Georg Maier (SPD), Thomas Kemmerich (FDP), Katja Wolf (BSW) und Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke).

Thüringen Aussagen aus der Sendung im Faktencheck

Stand: 16.08.2024 19:26 Uhr

Während der "Fakt ist"-Livesendung vor der Thüringer Landtagswahl am Donnerstagabend haben die Fakten-Checker der Recherche-Redaktion von MDR THÜRINGEN und Dokumentare der Abteilung Information, Dokumentation und Archive (IDA) die Aussagen der Spitzenkandidaten überprüft. Was stimmt, was nicht, was muss eingeordnet werden?

Von MDR THÜRINGEN

776 vietnamesische Auszubildende in Thüringen, 50 Prozent der Bürgergeld-Bezieher sind Ausländer, 330 Millionen Euro Förderung für den Breitbandausbau in Thüringen: Mit vielen Zahlen haben die Spitzenpolitiker in der MDR-Sendung "Fakt ist! Extra" zur Landtagswahl in Thüringen am Donnerstagabend ihre Redebeiträge und Argumentationen untermauert.

Stimmte das alles? Was war richtig, was war falsch? Die Fakten-Checker der Redaktion Recherche und Hintergrund von MDR THÜRINGEN und MDR-Doku-Service haben die Aussagen von Bodo Ramelow (Die Linke), Mario Voigt (CDU), Björn Höcke (AfD), Georg Maier (SPD), Bernhard Stengele (Grüne), Thomas Kemmerich (FDP) und Katja Wolf (BSW) in der Sendung aufmerksam registriert und überprüft.

Unser Fazit: Die meisten genannten Zahlen und Fakten stimmen

Falsch oder zumindest irreführend war die Aussage von Björn Höcke (AfD), Thüringen könnte als einzelnes Bundesland mit Herkunftsstaaten von Asylbewerbern Rückführungsabkommen schließen. Solche Abkommen sind Sache des Bundes oder der Europäischen Union. Eine "Nebenaußenpolitik", wie Linke-Spitzenkandidat Bodo Ramelow in der Sendung entgegnete, steht den einzelnen Bundesländern nicht zu.

Die Flüchtlingspolitik war neben Wirtschaft und Bildung eines der zentralen Themen der Sendung. Manche Zahlenangaben der Studiogäste zu Abschiebungen, Wirtschaftswachstum oder Unterrichtsausfall überprüfen wir noch genauer und werden diese fortlaufend in diesem Artikel ergänzen.

Thema Migration: Streit um Arbeitspflicht für Asylsuchende und Zuwanderung

Gefragt nach der Arbeitspflicht für Asylsuchende und den unterschiedlichen Zahlen in den Kreisen Sonneberg (neun Arbeitspflichtige) und Saale-Orla-Kreis (100 Arbeitspflichtige), sprach Höcke von "Symptompolitik" und sagte: "Wir haben Millionen, die nicht in Arbeit sind und auch nicht integrationsfähig sind."

Dazu einige Fakten: Laut Bundesarbeitsagentur sind aktuell von den 12,7 Millionen erwerbsfähigen Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit mehrere Millionen arbeitslos. Mit Blick auf diese Momentaufnahme ist allerdings von großer Bedeutung, wie viele Ausländer arbeitslos bleiben oder einen Job finden. Denn der Grad der Integration hängt entscheidend davon ab, ob Zuwanderer in reguläre Beschäftigungsverhältnisse kommen. Diese Fragestellung verfolgt das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung seit vielen Jahren.

Das Institut gibt an, dass von den geflüchteten Männern, die 2015/2016 nach Deutschland gekommen sind, inzwischen mehr als 80 Prozent arbeiten: "Nach der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten erreichen geflüchtete Männer, die sich acht und neun Jahre in Deutschland aufhalten, im Durchschnitt eine Erwerbstätigenquote von 86 Prozent. Die Befragungsergebnisse sind repräsentativ und weichen weniger als einen Prozentpunkt von den Durchschnittswerten der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit ab."

Eine andere Frage lautet hingegen, ob Asylsuchende, wie Höcke indirekt behauptet hatte, die "Sozialversicherungssysteme ausplündern"? Hierzu kann laut dem Nürnberger Institut gesagt werden, dass die Erwerbstätigkeitsquoten von Geflüchteten, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, kontinuierlich steigen. Je länger die Menschen in Deutschland sind, desto höher ist die Quote der Erwerbstätigen. Und so gehen die Nürnberger Forscher wie die Bundesregierung davon aus, dass die Integration von Asylsuchenden in den deutschen Arbeitsmarkt langfristig positive steuerliche und wirtschaftliche Aspekte hat, die die Kosten überwiegen. Von "Ausplündern" jedenfalls kann keine Rede sein.

Höcke hatte in der Sendung zudem mit Blick auf das Thema Zuwanderung und Gesellschaft einen Politologen zitierend gesagt: "Wir sind in einem einzigartigen historischen Experiment. Man versucht eine monoethnische, monokulturelle Gesellschaft in eine multiethnische, multikulturelle Gesellschaft zu verwandeln. Die Deutschen sind niemals gefragt worden, ob sie überhaupt dieses Experiment mitmachen wollen zum Schaden ihres Landes." An andere Stelle sagte er: "Die Multikultiralisierung muss beendet werden. Sie nutzt uns nichts. Sie schadet nur."

Hier bezieht sich der Thüringer AfD-Chef offensichtlich auf die extrem rechte Verschwörungserzählung von einem angeblichen "Großen Austausch". Demnach versuchten irgendwelche Eliten im Geheimen die angestammte deutsche Bevölkerung durch Migranten - vorzugsweise aus Afrika und dem arabischen Raum - zu ersetzen. Auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es dazu: "Der Verschwörung nach würden Migrationsbewegungen von 'geheimen Eliten' - meist jüdisch imaginiert - im Verborgenen gesteuert, um das jeweils eigene Volk auszulöschen." Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht im Verbreiten dieser Verschwörungserzählung Anhaltspunkte, dass "die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes für bestimmte Bevölkerungsgruppen infrage gestellt" werde.

Thema Bildung: Schwammige Aussagen bei Migration, Leistungserwartungen und Lehrermangel

Ein weiterer Themenschwerpunkt der Sendung war die Bildung in Thüringen. Hier äußerte sich vor allem der AfD-Vorsitzende Björn Höcke schwammig. So ist seine Aussage, dass der Migrationsanteil in Thüringer Schulen Schulen enorm sei, in Relation zu setzen. Fakt ist, dass die Zahl der Kinder, die nicht aus Deutschland stammen in Thüringen seit dem Schuljahr 2015/16 kontinuierlich angestiegen ist. So lag sie vor neun Jahren bei 7.789. Im vergangenen Schuljahr besuchten rund 30.000 Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern die Schulen in Thüringen. Ihr Anteil lag damit 11,8 Prozent. Allerdings steigen auch die gesamten Schülerzahlen seit 2013 in Thüringen wieder an.

In Deutschland hatten laut dem Statistischen Bundesamt im Schuljahr 2022/23 rund 14 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen ausländischen Pass. In Sachsen liegt der Migrationsanteil in den Schulen bei etwa 13 Prozent. Die Aussage, dass die Migrationsquote in Thüringen enorm sei, ist also per se nicht richtig.

Mario Voigt und Björn Höcke beim Fakt ist! Extra zur Landtagswahl

Björn Höcke (AfD) im Gespräch mit Mario Voigt (CDU, links) in der Sendung "Fakt ist! Extra" am Donnerstagabend in Erfurt.

Schulleistungen in der Kritik

Der AfD-Landesvorsitzende sagte auch, "dass die Schulleistung in den letzten Jahren, Jahrzehnten ein Desaster ist". Richtig ist, dass Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse in Thüringen laut einer Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zunehmend Probleme beim Lesen und bei der Rechtschreibung haben. Danach erreichte gerade einmal mehr als die Hälfte den Regelstandard beim Lesen. Rund jeder Fünfte konnte nicht einmal so lesen, dass es für das Mindestmaß reichte, 31 Prozent hatten erhebliche Probleme bei der Rechtschreibung wenigstens den Mindeststandard zu erreichen. Diese Aussagen von Höcke stimmen also.

Allerdings belegt Thüringen im aktuellen Bildungsmonitor nach Sachsen und Bayern den dritten Platz im Vergleich mit allen Bundesländern. Das Ranking bescheinigt, dass im Freistaat etwa die Ausgaben für Bildung höher sind als im Bundesdurchschnitt. Zudem ist der Anteil von Jugendlichen ohne Ausbildungsangebot der zweitniedrigste in Deutschland. Auch die Wiederholerquoten in Schulen sind niedrig. Im Durchschnitt würden Grundschülerinnen und –schüler hohe Kompetenzen in Mathe erreichen.    

Falsche Aussage zu Unterrichtssprache in Thüringen

In diesem Zusammenhang sagte Höcke auch, dass "wir mittlerweile Schulen haben, wo es keine einheitliche Unterrichtssprache mehr gibt." Diese Aussage ist von Fakten nicht gedeckt. Das Thüringer Bildungsministerium verweist darauf, dass in allen Thüringer Schulen die Unterrichtssprache Deutsch ist. Ausnahme sind der fremdsprachliche Unterricht, wo die jeweilige Fremdsprache im Unterricht dann auch angewadt wird und der bilinguale Unterricht in bestimmten Fächern, den es in Thüringen gibt. Das Ministerium verweist zudem darauf, dass von den 30.000 Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund nicht alle einen Sprachförderbedarf haben.

Lehrermangel nicht immer Schuld am Unterrichtsausfall

Auf die Frage der Moderatoren, ob es sinnvoll ist, mehr Lehrerinnen und Lehrer einzustellen, wenn Prognosen darauf hindeuten, dass die Schülerzahl bis 2035 in Thüringen sinkt, antwortete der FDP-Vorsitzende Thomas Kemmerich mit einem persönlichen Beispiel. So habe einer seiner Söhne, derzeit 11.Klasse, in den ersten zwei Wochen Schule nach Ende der Sommerferien schon die Hälfte der Zeit Unterrichtsausfall gehabt. Das stimmt sogar. Allerdings, so Recherchen von MDR, liege das in diesem Fall nicht unmittelbar am Lehrermangel, sondern daran, dass Lehrkräfte auf Klassen- und Kursfahrten waren.

Thomas Kemmerich, FDP-Vorsitzender in Thüringen

Thomas Kemmerich (FDP)

Bereich Wirtschaft: Aussage zu Windrädern und Steuernummern muss eingeordnet werden

In der Diskussion um hohe Energiepreise für Unternehmen und Belastungen der Auto-Industrie im Themenschwerpunkt Wirtschaft sagte Björn Höcke (AfD), dass "ein Windrad niemals das Rückgrat einer Energiewende sein" könne. "Ein Windrad ist weder grundlastfähig noch spitzenlastfähig". Diese Aussage muss jedoch eingeordnet werden.

Mit Grundlastfähigkeit ist die Fähigkeit eines Kraftwerks gemeint, kontinuierlich eine bestimmte Menge Energie bereitzustellen. Wind- und Solarenergie sind vom Wetter abhängig. Ein Windrad allein ist somit tatsächlich nicht grundlastfähig. Doch je flächendeckender diese Technologien ausgebaut werden, desto mehr ergänzen sich beide Energieformen. Wenn an einem Ort mit Windrädern in Deutschland kein Wind weht, es dafür aber an einem anderen Ort windig ist, so wird trotzdem Strom erzeugt. Bei der Nutzung von Wind- und Solarenergie werden Speicherkraftwerke zunehmend bedeutsam. Sie können auch Spitzenlast, also kurzfristig stark erhöhten Strombedarf, ausgleichen.

Rapsfeld in voller Blüte vor Windkraftanlagen bei Büsum an der Nordseeküste

Ein Windrad allein ist nicht grundlastfähig. Doch je flächendeckender Wind- und Solarenergie ausgebaut werden, desto mehr ergänzen sich beide Formen.

Voigt mit zweifelhafter Aussage zu Steuernummern

CDU-Spitzenkandidat Voigt behauptete in der Runde, Thüringen sei "das Bundesland, wo wir bei der Vergabe der Steueridentifikationsnummer in Deutschland am längsten brauchen, über drei Monate“. Welche Nummer er damit genau meint, ist unklar. Die personenbezogene Steueridentifikationsnummer bestehend aus elf Ziffern wird vom Bundeszentralamt für Steuern in Bonn vergeben und gilt ein Leben lang.

Auf Anfrage sagte ein Sprecher des Finanzministeriums zu Voigts Wortmeldung: "Wir gehen davon aus, dass Herr Voigt die Vergabe der Steuernummer meint, die die Thüringer Finanzämter bei Neugründungen vergeben. Dies dauert im Regelfall etwa 14 Tage. Voraussetzung dafür ist aber, dass der Gründer alle erforderlichen Unterlagen und den vollständig ausgefüllten Fragebogen zur steuerlichen Erfassung einreicht. Bei Kapitalgesellschaften muss außerdem die Eintragung ins Handelsregister abgewartet werden." Eine bundesweite, vergleichende Statistik sei dem Ministerium nicht bekannt.  

Ist Thüringen ein „failed State“?

"Deutschland ist auf dem Weg zum failed State. Das muss man ganz deutlich sagen", behauptete Björn Höcke in der Sendung. Ist das wirklich so? Ist Deutschland auf dem Weg ein "gescheiterter Staat" - so lautet der englische Begriff auf Deutsch - zu werden?

Als "gescheitert" werden üblicherweise Staaten bezeichnet, die mit ihren Organen (z.B. der Polizei) das staatliche Gewaltmonopol verloren haben. Ursachen dafür können Umweltkatstrophen, bewaffnete Konflikte, ökonomische oder soziale Bedingungen sowie ein schwaches politisches System sein. In der Vergangenheit wurde als Beispiel häufig das Bürgerkriegsland Somalia genannt, wo kriminelle Banden oder lokale Kriegsfürsten das Sagen hatten und eben nicht die offizielle Regierung in Mogadischu. Aktuell gilt Jemen als "failed state". Der Freistaat Thüringen sowie die Bundesrepublik sind von solchen Zuständen ganz offensichtlich extrem weit entfernt.

Müssen die Thüringer Schulen "entideologisiert" werden?

Als konkrete Vorschläge, um mehr Lehrerinnen und Lehrer zu gewinnen, sagte Höcke: "Entbürokratisierung, Entideologisieren, und auch hier wieder ist der Punkt, die Migration ist die Mutter aller Krisen. Die Belastung unserer Bildungseinrichtung ist enorm". Dabei ließ die MDR-Faktenchecker der Begriff "Entideologisieren" aufhorchen.

Fakt ist: Für Schulen gibt es klare Regeln, wie sie im Schulalltag und im Unterricht mit politischen Themen umgehen müssen. Grundsätzlich gilt für alle Schulen der so genannte "Beutelsbacher Konsens".

Demnach ist es laut der Bundeszentrale für politische Bildung "nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern ("Überwältigungsverbot"). Zweitens müssen Lehrerinnen und Lehrer politische Inhalte ausdrücklich kontrovers diskutieren lassen - "Kontroversitätsgebot". "Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen", heißt es dazu auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung.

Und drittens heißt es: "Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren." Diese Forderung sei mit dem "Kontroversitätsgebot" eng verknüpft, "denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten".

Hinweis: Da wir zur Spitzenkandidatenrunde im MDR mehrere Beiträge veröffentlicht haben und dazu eine sinnvolle Diskussion bei einer stringenten Moderation ermöglichen wollen, ist zu diesem Thema nur der Beitrag "Voigt an Höcke: 'Sie reden nur und Sie handeln nie!'" kommentierbar.

MDR (dr)