Ein Mann mit schwarzem Bascap, schwarzem Schaal und schwarzer Lederjacke steht in einem Park. Im Hintergrund sind Stadthäuser.

Thüringen Bewegender Roman zum erzwungenen Kindesentzug in der DDR

Stand: 14.12.2024 05:00 Uhr

In der Aufarbeitung des DDR-Unrechts sind die sogenannten Zwangsadoptionen ein fast blinder Fleck. Denn 35 Jahre nach dem Mauerfall gibt es lediglich sieben sicher dokumentierte Fälle, während einige Hundert mutmaßlich betroffene Eltern noch immer nach ihren Kindern suchen. Mit dem Roman „Weiße Hunde“ wirft der Erfurter Autor René Müller-Ferchland ein Schlaglicht auf ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte, dessen tatsächliches Ausmaß bis dato unerforscht ist.

Von Andreas Kehrer, MDR THÜRINGEN

Es ist ein ungelebtes Leben, das Annerose führt. In wenigen Tagen wird sie 58 Jahre alt und je näher die Rente rückt, desto schmerzlicher drängt sich die Frage auf, ob da noch etwas kommt. Denn das kleine Haus weitab der Stadt, in dem sie mit ein paar Tieren lebt, ist stets ein Wunschtraum geblieben. Stattdessen gabelt sie ihr Abendessen aus der Assiette und hört ihren Nachbarn durch die dünnen Wände der Erfurter Wohnscheibe zu. Sie haben schon wieder Gäste.

Was sie aber wirklich stört, das ist ihre neue Chefin im Supermarkt: Celine. Was für ein dummer Name. Ein junges Ding mit blondierten Haaren, das Annerose einfach nicht in Ruhe lassen will …

Fiktive Geschichte mit realen Hintergründen

Annerose ist die eremitisch lebende Hauptfigur in "Weiße Hunde", dem neuen Roman des Erfurter Autors René Müller-Ferchland, der mit diesem Buch erneut hinter die Fassade der Plattenbau-Tristesse in Ostdeutschland blickt. Abermals stößt er die Tür zu einer düsteren Vergangenheit auf und bettet historische Tatsachen in eine fiktive Romangeschichte ein. Wieder verstrickt er seine Figuren in ein einst echtes Unrecht, das sich vor dem Leser Seite um Seite zu einer traumatischen Familiengeschichte entblättert.

"Der Roman und Annerose waren für mich ein Anlass, mich mit der DDR auseinanderzusetzen", sagt Müller-Ferchland, der 1984 in Magdeburg geboren wurde und sich an seine eigenen Erfahrungen in diesem Staat nur noch bruchstückhaft erinnern kann. "Ich wollte einfach wissen, wie es dort war und was dort passieren konnte. Und was sich da am Horizont aufgetan hat, das hat mich zugegebenermaßen schockiert."

Im Roman wird die junge Celine zum Sinnbild dieser Suche nach Erkenntnis. Denn mit ihrer unbeschwerten und zugleich unnachgiebigen Art schafft sie es, zu Annerose durchzudringen. "Na klar fragt auch Annerose sich: Was will die denn von mir?", sagt Müller-Ferchland. "Aber wenn jemand so beschwert durch die Gegend geht und sich abkapselt von den Menschen, dann muss da irgendwas sein - und das sieht Celine." Unter Celines Herzenswärme taut Annerose allmählich auf und vertraut ihr bei einem gemeinsamen Kneipenabend die traumatischen Erlebnisse ihrer Jugend in der DDR an.

Die erzwungene Adoptionsunterschrift

Bereits in der Schule fällt Annerose immer wieder negativ auf. Sie gibt Widerworte, passt sich nicht an, und trotzdem verliebt sich Jakob in sie, der Sohn einer Parteifamilie. Weil beide erst 16 sind und Sex für Eltern und Lehrer ein Tabuthema ist, kommt es wie es kommen muss: Annerose wird schwanger. Der Arzt, dem sich das junge Mädchen anvertraut, zitiert umgehend ihre alleinerziehende Mutter aus dem Betrieb: "Noch in der Arztpraxis gab sie mir eine Ohrfeige", erzählt Annerose Celine.

Als schlechtes Vorbild wird ihr der Schulbesuch untersagt. Die Monate bis zur Geburt muss sie im Hausarrest verbringen, unter ständiger Bewachung der Nachbarin oder der Mutter. Als die Behörden davon Wind bekommen, fangen sie an, die alleinerziehende Mutter unter Druck zu setzen. Weil die Mutter fürchtet, dass die Jugendhilfe Annerose abholen könnte, bleibt sie zuhause. Weil sie zuhause bleibt, bekommt sie Ärger im Betrieb. Der Druck nimmt immer weiter zu.

Kurz vor der Geburt des Babys haben die Behörden Anneroses Mutter weich bekommen. Als Vormund gibt die Mutter über den Kopf ihrer Tochter hinweg ihren Enkelsohn zur Adoption frei. "Weißt du, es gab Fälle, da haben sie den Müttern erzählt, dass das Kind gestorben ist, damit sie es noch einfacher wegnehmen konnten", erzählt Annerose. "Das haben sie bei mir nicht gemacht. Sie haben mir die Unterschrift meiner Mutter gezeigt und ihn mitgenommen, da hatte er gerade seinen ersten Atem holen können."

Der heikle Vorwurf der "Zwangsadoption"

Die Geschichte von Annerose ist fiktiv. "Es gibt aber viele Erfahrungsberichte und Zeitzeugnisse", sagt Müller-Ferchland, der sich mit seiner Geschichte auf Betroffenen-Berichte stützt. Kontakt hatte er während der Recherche auch mit dem Büro von Dr. Peter Wurschi, dem Thüringer Landesbeauftragen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Wurschi aber bremst bei den sogenannten Zwangsadoptionen in der DDR und hält die mediale Debatte der letzten Jahre für schwierig. Zu wenig sei bisher bekannt, sagt er. Bislang gebe es nur sieben sicher belegte Fälle.

Schon den Begriff "Zwangsadoption" hält er für heikel: "Dahinter versteckt sich die Annahme, dass in der DDR Kinder aus oppositionellen oder widerständigen Haushalten entnommen wurden, um sie an alte Stasi-Familien zu veradoptieren", sagt Wurschi. "Das ist eine Geschichte, die sich in Film und Fernsehen gut erzählen lässt, weil sie das Drama einer Diktatur, auf eine Familie runterbricht." Der aktuelle Stand der Forschung halte dem Vorwurf eines systemischen Unrechts nicht Stand. Der Begriff gehe auch deshalb fehl, weil eine Adoption immer von Zwängen begleitet sei. "Keine Mutter und kein Vater würde das eigene Kind ohne Not freigeben."

Der Fall Andreas Laake

Müller-Ferchland hat für seinen Roman auch mit Andreas Laake gesprochen, der 2014 die Interessensgemeinschaft der gestohlenen Kinder der DDR gegründete hat. Laake habe bestätigt, dass es reale Fälle gebe, die dem von Annerose ähnelten, sagt Müller-Ferchland.

Seit einem TV-Auftritt 2013 ist Andreas Laake so etwas wie die Gallionsfigur im Kampf zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts bei erzwungenen Adoptionen. Denn er ist einer der sieben bis heute belegten Fälle, in denen nachgewiesen werden konnte, dass es in der DDR erzwungene Adoptionen gegeben hat.

1986 nach einer gescheiterten "Republikflucht" mit seiner damals schwangeren Frau kommt Laake in Haft, während seine Frau eine Strafe auf Bewährung erhält, weil sie unter enormen Druck der Adoption des Kindes zustimmt. Weil Andreas Laake sich der Adoptionsfreigabe beharrlich verweigert, erkennt ihm ein Gericht die elternschaftlichen Rechte kurzerhand ab. Nach der Wende begibt sich Laake auf eine jahrzehntelange Suche nach seinem Sohn Marko. Erst als er seinen Fall im Fernsehen schildert, hat er Erfolg. Einen Tag später nimmt Marko zu ihm Kontakt auf.

Heute sind sie so etwas wie beste Freunde, sagt Laake, doch die 29 Jahre ohne seinen Sohn habe er für immer verloren. Bis heute engagiere sich Laake für die Interessensgemeinschaft, weil die betroffenen Eltern heute alle Ende 50 bis Ende 60 seien. Denen, die noch nicht aufgegeben haben, laufe die Zeit davon, sagt er. Die Interessensgemeinschaft begleitet nach eigenen Angaben zwischen 3.000 und 5.000 Fälle von mutmaßlich Betroffenen. "Allein in Thüringen sind es mehr als 260 Betroffene", sagt Laake.

Zahlen und Schwierigkeiten bei "Asozialen" und Säuglingstoden

Zahlen, die der Thüringer Landesbeauftragte Peter Wurschi für schwierig hält: "Ich glaube, die Zahlen von einigen Tausend Zwangsadoptionen sind durch nichts zu belegen." Das Problem sei auch, dass in der Debatte verschiedene Umstände unter dem Begriff der Zwangsadoption vermengt würden.

Bei den Fällen der vermeintlich vorgetäuschten Säuglingstode, die Annerose in ihrer Erzählung oben kurz andeutet, fehlt laut Wurschi die historische Einordnung. In den 60er, 70er und teils noch in den 80er Jahren habe es sowohl in der DDR als auch in der BRD einen anderen Umgang mit dem Kindstod gegeben, sagt Wurschi. Heute würden Krankenhäuser einen solchen Verlust äußerst sensibel handhaben. "Aber damals ist man da viel robuster mit umgegangen. Die totgeborenen Kinder sind entsorgt worden, bevor eine Verabschiedung stattfinden konnte." Es sei daher verständlich, dass bei vielen Eltern, die sich nicht verabschieden konnten, eine Wunde geblieben sei. Daraus würden bis heute Zweifel am Verbleib des Kindes erwachsen.

Schwierig sei es auch von Zwangsadoptionen zu sprechen, wenn es um den "unsäglichen Paragrafen 249" gehe, sagt Wurschi. Letzterer erlaubte im DDR-Recht, Außenseitertum und Nonkonformität als "asozial" zu definieren und zu bestrafen. "In diesen Topf wurden sowohl politisch nonkonforme, aber auch dysfunktionale oder sozial prekäre Familien-Verhältnisse hineingeschoben. Ein Kindesentzug vor dem Hintergrund des Paragrafen 249 ist daher schwer zu bewerten, da der Tatbestand eine tatsächliche Kindeswohlgefährdung miteinschließt. Wurschi appelliert, die Fälle einzeln zu prüfen.

Aufarbeitung krankt an Akteneinsicht

Dass die Diskussion rund um die mutmaßlichen Zwangsadoptionen in der DDR sich medial verselbstständigte, hat mehrere Ursachen. "Aus meiner Sicht haben die Gegebenheiten in der DDR daran einen Anteil", sagt der René Müller-Ferchland. Schließlich hätten viele unter den Bedingungen der DDR gelitten. "Ob das dann richtig ist oder nicht, sei mal dahingestellt. Die Voraussetzung, das zu glauben, hat die DDR selbst geschaffen."

Ein weiterer Punkt ist die generelle wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas, die 35 Jahre nach dem Mauerfall noch ziemlich am Anfang steht. Erst 2018 veröffentlichte das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Auftrag des Bundesjugendministerium eine Vorstudie, die feststellte, dass das Phänomen von politisch motivierten Adoptionen in der DDR zwar bekannt sei, eine Aufarbeitung aber nur punktuell stattgefunden habe. 2022 nahm dann ein interdisziplinäres Forschungsteam die Arbeit an einer Vollstudie auf, die voraussichtlich Mitte 2025 veröffentlicht wird.

Sie könnte ein wenig Licht ins Dunkel bringen, wird aber mit Sicherheit noch keine konkreten Erkenntnisse darüber zu Tage fördern, in welchem Umfang in der DDR bei Adoptionen Unrecht verübt worden ist. Denn trotz einer bundesweiten Gesetzesnovelle ist die Einsicht in die Adoptionsakten selbst für die Forscher bisher schwierig.

Wann gibt Thüringen die Akten frei?

"Das Adoptionsrecht selbst ist ein sehr stringentes und zielt sehr auf die Wahrung der Persönlichkeitsrechte des Adoptivkindes ab", erklärt Peter Wurschi. "Das heißt, es müssen sehr, sehr, sehr gravierende Dinge vorliegen, um diesen Vorgang Dritten zugänglich zu machen." Darüber habe es trotz des neuen Gesetzes einen Disput zwischen den Datenschützern des Bundes und der Länder gegeben.

"Aber der hat jetzt hoffentlich bald ein Ende gefunden", sagt Wurschi vorsichtig optimistisch. Als erstes Bundesland hat Berlin vor wenigen Wochen die Akten zur Einsicht für die Forscher freigegeben. An diesem Beschluss wolle sich auch Thüringen orientieren, sagt Wurschi. "Darüber habe ich mich mit dem Landesdatenschützer und dem zuständigen Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Jugendbildung und Sport verständigt."

Etwas vehementer setzt Wurschi nach: "Es ist meines Erachtens dringend notwendig, sich diese Adoptionsakten innerhalb Thüringens noch mal anzuschauen, um die Diskussion mitnehmen, oder ihr begegnen zu können." Ob das im Ministerium ebenfalls als notwendig erachtet wird, ist fraglich. Eine Anfrage von MDR THÜRINGEN dazu, wann mit der Freigabe der Akten in Thüringen zu rechnen sei, ließ das Ministerium trotz Nachfrage zunächst unbeantwortet.

Rege Diskussionen auf der Lesereise

Unabhängig von den politischen und wissenschaftlichen Aspekten des Themas, trifft Müller-Ferchland mit seinem Roman jedenfalls einen gesellschaftlichen Nerv. Auf seiner Lesereise zu "Weiße Hunde" tourt er durch Ostdeutschland und insbesondere den ländlichen Raum. "Ich war zum Beispiel in Marksuhl, Behringen oder Lützensommern und da war ich schon gespannt, wie die Menschen sich da mit der DDR auseinandersetzen. Gerade weil die DDR in meinem Roman vielleicht auch etwas negativ wegkommt", erzählt der Autor.

"Aber die Menschen haben mir gern zugehört und danach auch das Gespräch gesucht und mir ihre Erfahrungen gespiegelt." Manche hätten sich auch gewundert, dass Annerose der Schule verwiesen wird, weil sie schwanger ist. Das sei in der DDR doch gar kein Problem gewesen. "Denen habe ich dann erklärt, dass es dafür noch andere Gründe gibt, die Annerose erst später erfährt", sagt Müller-Ferchland mit einem wissenden Lächeln. "Gründe, die ich in der Lesung natürlich nicht nennen kann, wenn ich das Ende nicht verraten will."

Weitere Lesungen von Müller-Ferchland in Thüringen
- 13. Februar 2025 in der LiteraurEtage Weimar - 12. März 2025 in der Stadtbibliothek Eisenach

MDR (ask)