Thüringen Diese Erinnerungen verbinden Thüringer mit dem 9. November 1989 und der Folgezeit
Der 9. November vor 35 Jahren und die darauf folgenden Tage und Wochen waren auch für viele Thüringerinnen und Thüringer eine unglaublich emotionale Zeit. Hier lesen Sie Erinnerungen an Mauerfall, Grenzöffnung und Wende.
Susanne Malina aus Bad Tennstedt
"Wir waren 20 Jahre zu der Zeit und alle zur Disco. Dort haben wir von der Grenzöffnung gehört, für uns unfassbar. Waren ja auch zu sämtlichen Demos vorher. Am nächsten Tag haben wir uns mit dem Trabi auf den Weg Richtung Westen gemacht. Wir wurden von einem Fotografen an der Tankstelle in Herleshausen angesprochen und haben spontan zu gesagt, das er ein Bild mit uns machen kann, haben uns zu dieser Zeit auch keine Gedanken weiter gemacht. Wir sind dann an das Ortsschild mit ihm gefahren und das Bild entstand. Und war damals schon ganz cool, in sämtlichen Zeitungen zu sein. Viele Leute erinnern sich heute noch daran und ich werde öfters darauf angesprochen."
Gerlinde Hildebrandt aus Nobitz
"Ich war zu einem Seminar vom Betrieb in Thüringen nicht sehr weit von der Grenze, an diesem Abend haben wir noch das Seminarende gefeiert und nichts mitbekommen. Am nächsten Morgen war nur noch die Hälfte der Teilnehmer am Frühstückstisch, der Rest war schon unterwegs. Mit Familie ging es dann am Sonntag in der gewohnten Trabischlange nach Bayreuth."
Severine Neubauer aus Lehesten im Thüringer Wald
"Den Tag der Grenzöffnung habe ich so erlebt: Als die Nachricht kam, bin ich mit meinem damaligen Freund zu meinem Papa. Der hatte Spätschicht.Wir ließen ihn ausrufen von der Wache aus. Er wollte es gar nicht glauben. Er dachte, es wäre ein Fake. Als wir ihm sagten, daß wir uns jetzt aufmachen gen Westen, hat er wahnsinnig geweint. Er hatte panische Angst um sein Töchterchen. Mein Freund versicherte ihm, er brauche keine Angst zu haben.
Gesagt getan, wir sind zum Zug damals von Mühlhausen in Richtung Worbis. Es war schon dunkel. Weiter fuhr der Zug nicht. Als wir in Worbis ankamen, ging es zu Fuß Richtung Grenze. Als wir an der Grenze ankamen, war alles hell erleuchtet. Eine wahnsinnig lange Autoschlange. Mein Herz schlug bis zum Hals, der Puls raste.
Endlich angekommen an der Grenze drängten uns die Grenzpolizisten zurück. Es standen auch ein Haufen Motorräder dort an der Grenze. Wir wunderten uns schon. Die Grenzpolizisten erklärten uns, dass nur Pkws über die Grenze dürfen. Keine Motorräder, keine Fußgänger. Also gingen wir zurück und versuchten in einen der Pkws aus der Autoschlange zu kommen. Es gelang uns. Wir fanden ein Ehepaar, junge Leute. Es war ein Trabi. Wir nahmen hinten im Auto Platz. Es ging sehr langsam vorwärts.
Als wir die Grenze endlich erreicht hatten, standen Polizisten am Übergang und fragten uns, ob wir im Westen bleiben wollen. Für immer meinten die. Einige wollten es. Wenn wir es bejaht hätten, hätten sie unsere Ausweise uns abgenommen. Und wir wären damals ins Aufnahmelager nach Gießen gekommen. Warum das damals so war - keine Ahnung. Wir verneinten alle. Der Knackpunkt zu dem Zeitpunkt war, mein Freund hatte das rote Parteimitgliedsbuch in seiner Jackentasche. Linientreu und Grenzflucht - das waren meine damaligen Gedanken.
Mir schossen tausend Dinge durch den Kopf. Endlich erreichten wir nach unzähligen Minuten den Westen. Duderstadt. Wohin?, waren meine Gedanken. Die Stadt schlief ja noch. Unsere netten Fahrer hatten sich von uns liebevoll verabschiedet und uns alles erdenklich Gute gewünscht. Also ging unsere Reise im Westen weiter. Es muss damals circa zwei oder drei Uhr Nachts gewesen sein.
So irrten wir durch die Nacht. Schauten voll Erstaunen die bunten Fenster an. Suchten unterdessen das Rathaus von Duderstadt. Es sickerte durch, es gibt 100 D-Mark Begrüßungsgeld. Wir fanden das Rathaus schließlich. Es war eine lange Schlange vor dem Rathaus in Duderstadt.
Es wurde langsam hell. Am Morgen öffnete das Rathaus. Und wir konnten das Begrüßungsgeld von 100 DM in Empfang nehmen. Es wurde auch im Personalausweis dokumentiert. Später konnten wir noch 50 DM holen. Dies geschah Tage später in Eschwege. Als wir in die ersten Geschäfte kamen mit dem neuen Geld war ich voller Adrenalin und konnte wirklich nichts kaufen von dem Geld. Zu groß der Schock was uns jahrelang verborgen war. Wir kehrten im Laufe des Tages zurück nach Mühlhausen. Meine Eltern waren total happy ihr Töchterchen endlich wieder zu haben. Sie konnten es nicht begreifen das es möglich war in den verbotenen Westen zu gelangen. Diese Tage des 9. und 10. November 1989 werden auch weiterhin tief in mir verwurzelt sein."
Stephanie aus Schmalkalden
"Der 9. November 1989 wird mir immer in bleibender Erinnerung bleiben, denn an diesem Tag kam mein Sohn Benjamin zur Welt. Deshalb habe ich die Ereignisse dieses Abends nicht richtig wahrgenommen. Erst am nächsten Tag erzählte mein Vater, dass der Betrieb fast leer sei, da alle Kollegen in den Westen gefahren seien ... Seinen verständnislosen Blick spüre ich heute noch, ich habe das zuerst überhaupt nicht verstanden. Diesen Tag mit allen seinen Ereignissen werde ich also nie vergessen können und heute bin ich unglaublich stolz auf meinen 35-jährigen Sohn."
Sigi Hahn aus Sontra-Ulfen
"Ich habe vier Wochen Grundausbildung in Perleberg gemacht, danach bin ich ins Grenzausbildungsregiment (GAR-11) nach Eisenach. Dann bin ich auf eigenen Wunsch nach Gerstungen in die 8. Grenzkompanie versetzt worden. Eigentlich war mein Traum, nach Berlin zu gehen. Da wir aber auch Westverwandtschaft hatten, war das nicht möglich. Dann habe ich in Gerstungen das Glück gehabt, eine Kommandierung nach Berlin zur Kinder- und Jugendregatta zu bekommen, um dort die Versorgung abzusichern. In Berlin-Grünau, wo wir stationiert waren, kamen auch immer Polizisten vom dortigen Polizeirevier. Mit denen habe ich mich angefreundet, und man hat mir angeboten, den Dienst dort zu kündigen und zur Polizei zu kommen. Ich sollte dann in Grünau Hundeführer werden. Ich habe dann bei den Grenztruppen gekündigt, bin in der selben Nacht nach Berlin gefahren und in der selben Nacht bekamen alle Reviere Einstellungsstop wegen der Grenzöffnung. Und so stand ich von einem Tag auf den anderen auf der Straße. Wir sind zwar noch einige Reviere angefahren, aber überall das Gleiche. Und da ich keinen Wohnsitz in Berlin hatte, empfahl man mir, nach Hause zu fahren."
Alexandra aus Duderstadt
"Mein 9. November 1989: Ich war in der 34. Woche schwanger. Mein Schwiegervater hat an dem Tag Geburtstag und wir haben gefeiert. Da ich mich nicht wohl gefühlt hab, hat mich mein damaliger Freund nach Hause gefahren und ich hab dann die Hitparade auf hr3 gehört, es war ja Donnerstag. Und ab kurz nach acht Uhr kam dann ständig die Meldung. Ich wohnte damals in einem kleinen Ort mit Schlagbaum, also vor der Sperrzone und ab um 22 Uhr war das Dorf voll mit Trabbis, Wartburgs und Co. Die Stimmung bei den Insassen war euphorisch, aber auch angespannt. Ich kriege heute noch ein bisschen Bauchweh."
Sandy aus Schmölln
"Ich war am 9. November 1989 leider schon 'im Westen'. Wir waren im Juli 1988 übergesiedelt, wie man es damals nannte. Bis heute finde ich es schade, dass ich diese historischen Momente nicht hier im Osten und vor allem mit meinen Freunden verbringen konnte. 1989 war ich 16 Jahre alt und ging noch zur Schule. Dort habe ich das dann erfahren, was da passiert war. Mein erster Gedanke war: Ich gehe zurück!!! Und nach einer Berufsausbildung bin ich 1994 tatsächlich zurück nach Schmölln gezogen."
Ilona aus Stadtroda
"Ich bin am 20. September 1989 aus der DDR nach Chile ausgereist, eine recht schwierige Ausreise. Den Mauerfall habe ich im chilenischen Fernsehen gesehen, konnte noch kein Wort spanisch, deutsche Medien per Internet gab es noch nicht. Ich war fassungslos. 1995 war ich das erste Mal wieder in Deutschland. Die Emotion, das erste Mal durch das Brandenburger Tor zu laufen, war das schon sehr heftig."
MDR (dgr)