Thüringen Ermordet und verschwiegen: Jenaer Forschungsprojekt erinnert an Opfer der NS-"Euthanasie" in Thüringen
Kurt Apel wurde 1911 in Weimar geboren und landete 1937 auf dem Radar der Nazis, weil er Telefonisolatoren am Stadtrand zerschossen hatte. Wegen psychischer Probleme wird er in die Nervenklinik Jena überwiesen. Die Nazis ordnen die Zwangssterilisation an. So jemand wie Kurt Apel sollte sich laut ihnen nicht fortpflanzen. Der Weimarer ist ein Opfer der NS-"Euthanasie". Eines von vielen.
Wochenlang hat Steffi von dem Fange im Hauptstaatsarchiv Weimar Akten gewälzt, sortiert und gelesen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin hat für das Forschungsprojekt "Beredtes Schweigen" der Universität Jena zahlreiche Unterlagen gelesen und Biografien aufgearbeitet.
Es sind Akten von Menschen aus Thüringen, die während der NS-Zeit ermordet und ausgelöscht wurden. Sie wurden zwangssterilisiert, mit Medikamenten ruhiggestellt, an Betten gefesselt oder in den Tötungsanstalten in Deutschland umgebracht. Sie passten nicht ins damalige Bild des "gesunden und leistungsfähigen Deutschen".
Im Zuge der "Euthanasie"-Bestreben der Nazis wurden sie ihrer Fortpflanzungsfähigkeit beraubt oder ermordet. Auch Kurt Apel starb. Nachdem er jahrelang in der Heilanstalt Blankenhain mit Medikamenten ruhiggestellt wurde, kam er schließlich im Rahmen der "Aktion T4" in der Tötungsanstalt im sächsischen Pirna Sonnenstein ums Leben. Ermordet von den Nazis.
"Euthanasie": Nazis töten Menschen, die Staat viel kosten
Deutschland in den 1930er-Jahren: Die Nazis beginnen damit, Menschen zu sortieren. Wer kostet zu viel? Wer darf leben? Wer muss ausgelöscht werden? "Der Nationalsozialismus ist eine jugendlich sportliche Leistungsgesellschaft. Und da kam es auf Leistung, Gesundheit und Jugendlichkeit an und auch auf ein fittes und präsentes Leben.
Das waren eindeutige Ziele dieses Staates. Da störte das Kranke, das Elende, das Alkoholische, die Syphilitiker", erläutert Historiker Götz Aly. Ab 1939 ermordeten die Nazis Kinder, Frauen und Männer - Menschen, die sie als "lebensunwert" ansahen.
"Euthanasie" wurde zum gewollten und beschleunigten Sterben, zur sogenannten Lebensunterbrechung. Ein Begriff, den die Nazis selbst verwendet haben. Aus der "Euthanasie" machten sie ein Programm.
Täterorte geraten oft in Vergessenheit
Mehr als 400.000 Frauen, Männer und Jugendliche wurden im NS-Staat zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert. Allein 16.000 waren es im damaligen Gebiet Thüringens. Sie waren gehörlos, stumm, geistig und körperlich beeinträchtigt oder hatten andere "Makel", die das NS-Regime unter Adolf Hitler auslöschen wollte. Doch an vielen Täterorten erinnert heute kaum noch etwas an die Verbrechen von einst.
Wo heute die Weimarer ACC-Galerie beheimatet ist, befand sich früher das Gesundheitsamt, von dem aus auch zahlreiche Zwangssterilisationen angeordnet wurden.
Viele wissen nicht, dass etwa das Haus neben der heutigen ACC-Galerie in Weimar einmal das Gesundheitsamt der Stadt war. Der damalige Amtsarzt Dr. Waldemar Freienstein setzte die NS-Ideale um und beantragte zahlreiche Zwangssterilisationen. Das einstige Landesamt für Rassewesen in der Marienstraße 13 in Weimar ist heute ein Teil der Bauhaus-Universität.
Auch das frühere Landesamt für Rassekunde in Weimar ist heute wieder in Verwendung - als Gebäude der Bauhaus-Uni.
Theaterstück, Graphic Novel und Unterrichtsmaterialien für mehr Bildung zu "Euthanasie"
Über zwei Jahre lang haben Mitwirkende des Projekts "Beredtes Schweigen" geforscht, um vor allem diese Täterorte von damals wieder sichtbar zu machen. "Man merkt bis in die heutige Zeit, dass man sich mit diesem Thema schwertut. Es taucht im Bildungskontext und auch an den Orten der Erinnerungskultur kaum bis gar nicht auf", weiß Projektleiter Karl Porges. In Thüringen seien noch immer viele NS-Täterorte kaum als solche bekannt, auch ihre damalige Vernetzung in den Sterilisations- und Mordprogrammen kennen nur wenige.
Die Betroffenen der Eugenik-Verbrechen sind bis heute nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Steffi von dem Fange | Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Steffi von dem Fange arbeitet an dem Forschungsprojekt der Uni Jena mit und fordert, dass Eugenik-Betroffene als Opfer des Nationalsozialismus ankernannt werden.
Auch an die Opfer der NS-"Euthanasie" will das Projekt, das mit 400.000 Euro von der Stiftung EVZ und dem Bundesministerium für Finanzen gefördert wurde, erinnern. Wissenschaftlich und künstlerisch wurden innerhalb von zwei Jahren verschiedene Ideen umgesetzt.
So ist in Zusammenarbeit mit dem "Stellwerk - Junges Theater Weimar" das Theaterstück "Ausradiert" entstanden. Dazu wurden eine Graphic Novel und zahlreiche neue Unterrichtsmaterialien für Gymnasien, Regel- und auch Berufsfachschulen entwickelt.
Wenn wir uns die Lehrpläne in Thüringen anschauen, spielt das Thema NS-Eugenik eigentlich gar keine Rolle. Karl Porges | Projektleiter
Karl Porges leitet das Projekt "Beredtes Schweigen", das die Eugenik-Verbrechen thematisiert.
Frühzeitiges Ampel-Aus verhindert Bundestagspläne zur Anerkennung der Eugenik-Opfer
"Wenn wir uns die Lehrpläne in Thüringen anschauen, spielt das Thema NS-Eugenik eigentlich gar keine Rolle", sagt Karl Porges. Das habe eine Analyse der Forschungsgruppe ergeben. Auf verschiedenen Social-Media-Kanälen machen deshalb junge Menschen mit selbstgedrehten Clips auf das Thema aufmerksam.
Zum Aufklappen: Was ist Eugenik?
Als Eugenik bezeichnet man die Lehre von der "Verbesserung des biologischen Erbgutes" des Menschen. Eugeniker waren der Auffassung, dass die Missstände moderner Gesellschaften wie etwa Kriminalität, psychische Erkrankungen und sogar Armut auf erbliche Faktoren zurückzuführen sind.
Im Zentrum der Überzeugungen stand der Grundsatz, dass die menschliche Vererbung unveränderlich ist. Die meisten Befürworter schlossen sich den Zielen des amerikanischen Biologen Charles Davenport an. Er sprach sich für die Entwicklung der Eugenik als Wissenschaft aus, die "der Verbesserung der menschlichen Rasse durch bessere Züchtung dient".
Ihre radikalste Ausprägung fand die Eugenik in Deutschland, wo sie auch als "Rassenhygiene" bekannt ist. Ein wesentlicher Anteil der NS-Verfolgungsprogramme baute auf solchen Theorien auf.
Eugenische Konzepte oder Ziele werden heute in der deutschen Öffentlichkeit und in der Politik weitgehend abgelehnt.
Quelle: United States Holocaust Memorial Museum
Aber auch das Leid und die Gegenwehr zahlreicher Betroffener wurden in Erinnerung gebracht, denn viele Opfer wurden nicht nur von den Nazis gedemütigt und ermordet, sondern auch von den Familien verschwiegen und von der Gesellschaft vergessen.
Das Forschungsprojekt will mehr Bewusstsein über die "Euthanasie"-Verbrechen schaffen.
"Die Betroffenen der Eugenik-Verbrechen sind bis heute nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Das ist eine Folge dieses Schweigens und dieses fortwährenden eugenischen Denkens. Und darüber muss gesprochen werden", sagt Steffi von dem Fange. Ein Antrag zur Anerkennung der Opfer der NS-"Euthanasie" und Zwangssterilisationen wurde jetzt nach dem Aus der Ampel-Koalition von der Tagesordnung des Bundestages genommen.
Mehr zu diesem Thema im Film "Ermordet. Verschwiegen. Vergessen - Die Opfer der NS-Euthanasie" am Mittwochabend, 20:45 Uhr, im MDR Fernsehen.
MDR (ost)