Yvonne und Wolfgang Andrä sind auf einer Wahlveranstaltung der SPD und lächeln sich an.

Thüringen Politiklabor Thüringen: Filmemacher-Paar begleitet Landtagswahl

Stand: 31.08.2024 19:00 Uhr

Kurz vor der Landtagswahl besteht die Arbeitswoche der Filmemacher Yvonne und Wolfgang Andrä aus 80 Stunden. Sie produzieren einen Kino-Dokumentarfilm über die Thüringer Landtagswahl. Doch die Finanzierung hakt. Jeder Tag ist geprägt von Ungewissheit. Aber gerade die ist es, wofür sie jeden Tag wieder ins Auto steigen.

Von Anne-Sophie Golle, MDR THÜRINGEN

"Da hinten ist noch ein abgerissener Ramelow. Den sollten wir noch mitnehmen", sagt Yvonne Andrä und deutet die Weimarer Landstraße entlang. Ihr Mann Wolfgang nickt, schultert sein Stativ und läuft auf die Laterne zu. Wenige Schritte vor dem zerknitterten Linke-Wahlplakat macht er Halt, um das Konterfei des Ministerpräsidenten zu filmen. "Für den Film halten wir auch fest, wenn Plakate zerstört, bemalt oder kreativ erweitert werden. Das ist ein Element des Films", erklärt Wolfgang Andrä.

Die Filmemacher stehen vor einem beschmierten Wahlplakat von Sahra Wagenknecht. In der Mitte von ihnen ist eine Kamera auf einem Stativ auf das Plakat gerichtet. Wolfgang schaut rüber zu Yvonne.

Beschmierte Wahlplakate sollen eine wichtige Funktion im Film einnehmen.

Das Filmen solcher Wahlplakate ist mittlerweile Routine für das Filmemacher-Paar Andrä aus Weimar. In Persona begegnen Yvonne und Wolfgang Bodo Ramelow im Interviewset. Er ist einer der sechs Spitzenkandidaten, die das Paar für ihren Kino-Dokumentarfilm über die Thüringer Landtagswahl begleitet. Neben dem Ministerpräsidenten sind Mario Voigt (CDU), Georg Maier (SPD), Katja Wolf (BSW), Thomas Kemmerich (FDP) und Madeleine Henfling (Grüne) die Hauptpersonen des Films. Seit Dezember 2023 reisen die Filmemacher dafür quer durch Thüringen, nehmen Parteiveranstaltungen mit und lassen sich von den Spitzenkandidaten ihre Politik erklären.

Thüringen: Deutschlands Politiklabor

Mit ihrem Film wollen sie den Wahlkampf, die Koalitionsfindung, die Wahl des Ministerpräsidenten und die schlussendliche Regierungsbildung in Thüringen dokumentieren.

"Thüringen steht vor massiven Veränderungen. Dieses Bundesland ist Deutschlands Politiklabor. Vor 100 Jahren war es das auch schon einmal. Da war es auch schon einmal eine Schicksalswahl", erklärt Yvonne Andrä. Der vorläufige Titel des Films lautet daher "Die Thüringer Schicksalwahl".

Schlussendlich sollen eineinhalb Stunden Kinofilm entstehen. Hunderte Stunden wird das Paar dafür drehen. Das müssen sie auch, sagt Wolfgang Andrä. Denn welche Parteien, Aspekte und Konflikte in den Koalitionsverhandlungen relevant werden, sei hier in Thüringen vollkommen ungewiss. "Wir wollen den Fokus des Films darauf legen, wie sich Macht bildet. Wie geht es in dieser Gemengelage in Thüringen überhaupt, eine Regierung zu bilden?"

Auch Björn Höcke, den Spitzenkandidaten der AfD, hat Yvonne vielfach kontaktiert, um ihn für den Film anzufragen. Eine Rückmeldung bekam sie nicht. "Björn Höcke ist eine Person der Zeitgeschichte und natürlich dreht dieser Wahlkampf sich auch um ihn. Also fahren wir zu offiziellen Terminen, wo er auf der Bühne steht. Das ist natürlich schade, weil wir bestimme Facetten, die wir bei den anderen erzählen können, nicht mitbekommen", sagt Yvonne Andrä.

Entdeckungstour Dokumentarfilm

Heute ist Drehtag 54. Für die Filmemacher steht ein wichtiger Termin auf dem Programm: SPD-Spitzenkandidat Georg Maier und Bundeskanzler Olaf Scholz kommen nach Jena und machen Wahlkampf.

"Yvonne weiß, was wir welchem Tag mit welchem Kandidaten drehen. Aber du weißt eigentlich nie, was sich daraus ergibt. Es gibt immer wieder Glücksmomente. Das ist das Tolle beim Dokumentarfilm. Am Anfang weißt du gar nicht, was wichtig ist. Aber dann langsam kristallisiert es sich raus. Man ist auf Entdeckungstour", erklärt Wolfgang Andrä.

Filmemacher Wolfgang Andrä steht vor einem Stativ und bedient die Kamera. Er hat graue Locken und schaut konzentriert auf die Kamera.

Wolfgang Andrä ist zum einen für die Kamerarbeit zuständig, zum anderen führt er Regie.

Während der Fahrt durchs Weimarer Land halten die beiden die Augen offen. Sie fährt, er hält ab und zu die Kamera aus dem Fenster, filmt Wiesen, Wälder und leere Bushaltestellen. "Wir müssen das Land erzählen", sagt er. "Da gehört die metaphorische Ebene dazu. Wir filmen, wie die Wiesen grün sind, wie sie braun werden, wie Sonnenblumen wachsen und irgendwann einknicken, Windräder sich bewegen oder ganz stillstehen." Mit solchen Motiven will das Ehepaar die Geschehnisse unterstreichen, die sich im Wahlkampf und der Regierungsbildung zwischen den Parteien abspielen.

Wir leben in einem Land, in dem gerade ziemlich viel passiert. Es nervt mich unglaublich, wenn immer alle nur rumjammern. Herr Gott, dann greift doch einfach in die Hände und macht was! Das ist unsere Art, etwas zu machen. Wir können eben über Film etwas erzählen. Yvonne Andrä | Filmemacherin

Yvonne ist hier geboren, ihr Mann zugezogen. Die Liebe zu Thüringen ist nur einer der Beweggründe, warum das Paar das Projekt im Dezember in Angriff genommen hat. "Wir leben ja in einer Gesellschaft, in einem Land, in dem gerade ziemlich viel passiert. Es nervt mich unglaublich, wenn immer alle nur schimpfen und rumjammern. Herr Gott, dann greift doch einfach in die Hände und macht was! Das ist unsere Art, etwas zu machen. Wir können eben über Film etwas erzählen. Und nach dem letzten Film und den Zuschauerreaktionen haben wir gedacht: Okay, das ist auch etwas, was viele Menschen bewegt und interessiert."

2023 veröffentlichte das Paar seinen ersten Kino-Dokumentarfilm. In "Arena 196 – zwischen Wende, Wahl und Wirklichkeit" begleiten sie fünf Kandidaten und eine Kandidatin im Wahlkreis 196 in Thüringen während des Bundestagswahlkampfs. Der Film sorgte für viel Furore in Presse und Landespolitik.

Für ihren neuen Film stehen sie vor noch größeren Herausforderungen: "Spitzenpolitiker sind mit anderen Wassern gewaschen als Leute, die das weniger lange betreiben oder weniger professionell. Wir hatten ja bei dem Arena-Film auch Leute, die das allererste Mal so was gemacht haben", erklärt Wolfgang Andrä.

Ein Kinofilm (fast) ohne Geldgeber

Wann der Film fertig sein wird und in die Arthouse-Kinos kommt, steht noch nicht fest. Das sei auch abhängig davon, wann die Regierungsbildung abgeschlossen ist.

"Thüringen hat ja Erfahrung damit, nicht so zu sein wie andere und alles auf eine gänzlich experimentelle Weise zu machen", sagt Wolfgang, während er eine Drohne mit seinem Handy steuert und Aufnahmen von braunen Feldern macht.

 Filmemacher Wolfgang Andrä steht an einem großen Holztisch und bedient über sein Handy eine Kameradrohne, die vor ihm auf dem Tisch steht.

Mit den Drohnenaufnahmen wollen Yvonne und Wolfgang Orte im Film einleiten und ein Gefühl für Thüringen vermitteln.

Damit sie den Film erfolgreich abschließen können, brauchen die Filmemacher aber noch Klarheit in einem wichtigen Punkt: die Finanzierung. Einen Auftraggeber für den Film konnten sie nicht gewinnen. Die beantragten Filmförderungen wurden größtenteils abgelehnt. Kalkuliert hatten sie 100.000 Euro für Recherche, Dreh und Schnitt. Die Thüringer Filmförderung stellte ihnen 40.000 Euro zur Verfügung. So sei wenigstens der Dreh abgedeckt, erzählen sie. Aktuell ist es ein Minusgeschäft für das Paar. Der Schnitt ist noch nicht finanziert.

Um die weiteren Kosten zu decken, setzen die Filmemacher jetzt auf Crowdfunding. Immerhin 6.000 Euro haben sie durch Spenden schon zusammen bekommen. "Tatsächlich spenden uns Menschen fünf bis 500 Euro. Wir sind sehr glücklich darüber. Unsere Arbeit und das Land Thüringen bedeuten so vielen Menschen etwas, dass sie uns das ermöglichen", sagt Yvonne Andrä. Viele Menschen würden spenden, weil sie schon ihren Film über die Bundestagswahl gesehen haben, erzählt das Paar.

Yvonne und Wolfgang Andrä stehen vor grünen Bäumen. Vor ihnen steht eine Kamera auf einem Stativ. Beide schauen Richtung der Kamera.

Um die weiteren Kosten für ihr Projekt zu decken, setzen die beiden Filmemacher auch auf Spenden.

Wo die Liebe hinfilmt

Auf der Rückbank ihres gemieteten VWs liegt die Tontechnik. Die Kameraarbeit ist Wolfgangs Metier, den Ton macht oft Yvonne. Regie führen sie zusammen, wie sie es damals im Studium schon taten. 2001 produzierten sie dort ihren ersten gemeinsamen Dokumentarfilm.

"Meine Frau und ich haben uns auch beim Filmemachen verliebt", erzählt Wolfgang auf der Fahrt in die Jenaer Innenstadt. Seit mehr als 20 Jahren leben sie zusammen in Weimar und machen Filmprojekte. Ein Pensum an Zweisamkeit, was für viele Ehen wohl eher untypisch ist. "Manchmal ist es natürlich auch nicht leicht, weil wenn Konflikte entstehen, dann sind sie automatisch auch im Privatleben drin", erklärt Yvonne. "Aber meistens ist es ein totales Glücksgefühl, wenn wir Dinge zusammen erschaffen oder berührende Momente zusammen erleben beim Dreh." Vom Beifahrersitz ertönt Zustimmung: "Das schweißt auch zusammen", fügt Wolfgang hinzu.

Klassenfahrt in die Spitzenpolitik

Als Yvonne und Wolfgang auf dem Marktplatz in Jena ankommen, sind sie überrascht. Eine Stunde bevor Maier und Scholz auf der SPD-Wahlveranstaltung auftreten, sind mehr Pressevertreter und Sicherheitskräfte anwesend als Zuschauer. Mit der Technik unterm Arm und auf der Schulter bahnt sich das Paar den Weg in den Pressebereich. Dicht an dicht sind dort bereits einige Kameras auf die Bühne gerichtet. Yvonne und Wolfgang positionieren sich daneben.

Filmemacher Weimar 5. Alt-text: Wolfgang Andrä steht in einer Menschenmenge und schaut konzentriert auf seine Kamera auf einem Stativ.

Bei den Wahlkampfveranstaltungen geht es vor allem darum, einen guten Blick auf die Bühne zu ergattern.

Die Filmemacher versprechen sich Statements von Maier und Scholz zum Messerangriff in Solingen. Während der Bundeskanzler für seine kämpferischen Worte vom Großteil des Publikums Applaus einheimst, buhen ein paar Zuhörer aus den hinteren Reihen laut. Wolfgangs Blick ruht auf seinem Kamerabildschirm, er lächelt zufrieden. "Solingen spielt eine große Rolle im Wahlkampf gerade. Das ist wichtig, dass wir diese Statements drin haben", sagt er.

Also wenn du beispielsweise mit Katja Wolf im Auto unterwegs bist, das hat so ein bisschen Feeling wie Klassenfahrt. Yvonne Andrä | Filmemacherin

Aber die besten Momente für das Filmemacherpaar sind die, wo sie ganz nah dran sind an den Spitzenkandidaten. Wenn sie lange Interviews führen, oder die Politiker den ganzen Tag begleiten. "Es gibt einen Unterschied, ob du einfach zu den Veranstaltungen gehst oder ob du halt den ganzen Tag nah dabei bist. Also wenn du beispielsweise mit Katja Wolf im Auto unterwegs bist, das hat so ein bisschen Feeling wie Klassenfahrt", sagt Yvonne, während sie das Kamerastativ wieder zusammenklappt.

Nach einer kurzen Absprache entscheidet sich das Paar, spontan eine weitere Wahlkampfveranstaltung in Weimar mitzunehmen. "Die letzten zwei Monate haben wir 80-Stunden-Wochen. Du bist manchmal schon 13, 14 Stunden am Tag unterwegs", sagt Wolfgang. Auch heute scheint einer dieser Tage für das Filmemacherpaar zu sein. Schließlich wissen sie nicht, welche Glücksmomente sie sonst verpassen könnten auf ihrer Entdeckungstour.  

MDR (asg)