Thüringen Was macht die Thüringer wütend?
Im Rahmen eines Kunstprojektes sind Yvonne Andrä und Stefan Petermann aus Weimar durch Thüringen gereist und haben die Menschen gefragt, worauf sie wütend sind. Was sie dabei erlebt und welche Antworten sie bekommen haben, erzählt Yvonne Andrä im Interview.
Es ist fast fünf Jahre her, dass ein Bild aus Thüringen sehr schnell viral ging: Das Bild, wie Susanne Hennig-Wellsow (Linke) Thomas Kemmerich (FDP) einen Blumenstrauß vor die Füße wirft. Der Strauß war sehr wahrscheinlich für Bodo Ramelow gedacht, der sich am 5. Februar 2020 erneut zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen wollte.
Der Moment, in dem die Linke-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow dem frisch gewählten Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) am 5. Februar 2020 im Thüringer Landtag einen Blumenstrauß vor die Füße warf.
Doch statt Ramelow wurde überraschend Kemmerich gewählt. Statt diesem die Hand zu geben, um zu gratulieren, ließ Hennig-Wellsow die Blumen fallen, deutete eine Verbeugung an, drehte sich um und ging. Der Thüringer Blumenwurf wurde zu einem eigenen Begriff in der medialen und politischen Landschaft Deutschlands - und über die Landesgrenzen hinaus berühmt.
Egal, mit wem du sprichst, jeder kennt den Thüringer Blumenwurf. Yvonne Andrä | Künstlerin
"Egal, mit wem du sprichst, jeder kennt den Thüringer Blumenwurf, jeder weiß sofort, was es ist", sagt Yvonne Andrä, Künstlerin und Filmemacherin aus Weimar. Deshalb wurde dieser Moment aus dem Landtag zum Aufhänger für ein Kunstprojekt: Das Blumenwurf-Projekt.
Der Ausgangspunkt des Projektes war ein Gedanke, der Andrä "ziemlich beschäftigt" hat, wie sie erzählt. Nämlich, "dass es im Osten eine andere Art Unzufriedenheit mit der aktuellen Lage gibt und teilweise auch Wut", sagt sie. "Mich hat sehr interessiert, warum das so ist."
Blumenwurf auf den Straßen Thüringens
Doch wie sollte die Filmemacherin mit Leuten außerhalb ihres eigenen Kreises ins Gespräch kommen? An dieser Stelle sei die Idee ins Spiel gekommen, den Akt des Blumenwurfs der parlamentarischen Bühne zu entreißen und ihn auf die Straßen von Thüringen zu bringen, sagt Andrä.
Sie beschreibt den Blumenwurf einerseits als einen "Akt der Wut" und andererseits als "Grabesstrauß der politischen Träume". Andrä: "Für mich hat Wut etwas damit zu tun, dass eine Art von Hoffnung oder Wunsch oder Traum oder Vorstellung vom Leben nicht erfüllt wird. Etwas, von dem du erwartest, dass es passiert, passiert nicht. Das ist etwas, was Wut auslösen kann."
Wir wollten das auf den Straßen von Thüringen als Happening inszenieren, gucken, was passiert denn da, darüber schreiben und den Akt an sich fotografieren. Yvonne Andrä | Künstlerin
Und so haben sich Yvonne Andrä und der Künstler und Schriftsteller Stefan Petermann im Sommer 2024 aufgemacht, um die Menschen in einigen kleineren Thüringer Orten zu fragen, worauf sie wütend sind.
Sie hatten eine Tafel dabei, auf die die Menschen etwas schreiben konnten. Sie hatten drei Blumensträuße dabei, die die Menschen werfen konnten: einen Kunstblumenstrauß, einen getrockneten Strauß und einen frischen Blumenstrauß.
Sie wollten mit den Leuten reden und zuhören und das ganze zum Online-Projekt machen. "Wir wollten das auf den Straßen von Thüringen als Happening inszenieren, gucken, was passiert denn da, darüber schreiben und den Akt an sich fotografieren."
Eine Frau wirft Blumen auf eine Tafel beim Projekt "Blumenwurf".
700 Seiten Gespräche und Fotos
Am Ende haben Andrä und Petermann Gespräche und Fotos auf 700 Seiten gesammelt. Auf ihrer Website könne man sich da durchklicken, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Die beiden planen dazu auch Ausstellungen, zum Beispiel auf Schloss Burgk im Saale-Orla-Kreis. Was für Menschen zu dem Projekt kamen, worauf sie wütend sind was sie überrascht hat, haben wir Yvonne Andrä im Interview gefragt:
Wo haben Sie mit den Menschen gesprochen?
Wir waren in kleinen Dörfern: in Eichstruth, Meusebach und in Burgk, einem Ortsteil von Schleiz. Und wir waren in kleineren Städten: in Bad Frankenhausen, in Pößneck, in Eisenberg und in Weimar. Wir wollten unbedingt das ländliche Thüringen abbilden, weil Thüringen das ländlichste Bundesland ist.
Wie viele Menschen kamen zu den Gesprächen?
Wir hatten an die 80 Gespräche. Die Menschen kamen aus unterschiedlichen Gründen, entweder weil sie uns kannten, weil wir da halt saßen oder weil sie es interessant fanden.
Was waren das für Menschen?
Wir hatten jede Gesellschaftsschicht bei uns sitzen. Wir hatten einen Obdachlosen, eine Zahnarzthelferin, eine Bibliothekarin, Psychotherapeuten, Politiker, Lehrerinnen, Schauspieler, einen Regisseur, Lkw-Fahrer, einen Zimmermann, Rentner und Pensionäre. Das war ein breiter Spiegel der Bevölkerung.
Sie wollten mit ihrem Projekt erfahren, worauf die Menschen wütend sind. Worauf sind die Menschen denn wütend?
Bestimmte Themen, die medial stark gespiegelt werden, haben wir auch gefunden. Zum Beispiel wurden die Themen "Krieg und Frieden" und "Migration" öfter angesprochen.
Ansonsten gab es vieles, worauf die Leute wütend waren: auf die Ungerechtigkeit, auf soziale Zustände, auf die fehlende Wertschätzung von Arbeit, auf die zunehmende Aggressivität der Bevölkerung, auf das Gesundheitssystem.
Wir hatten Leute, die gesagt haben, sie sind wütend darauf, dass das Schulsystem so in Gewinner und Verlierer sortiert. Dass diejenigen, die kein Abitur machen können, nicht so wertgeschätzt werden und weniger verdienen.
Es gab Leute, die gesagt haben, sie sind wütend darauf, dass sie nicht wütend sein durften. Frauen, die erzählt haben, dass sie Wut erst lernen mussten und wütend darauf sind, dass sie nur Schweigen gelernt haben.
Wer denkt, er weiß etwas über Wut, dem kann ich nur sagen, vergiss es. Und wer glaubt, er weiß etwas über den Osten, dem kann ich auch nur sagen, vergiss es. Yvonne Andrä | Künstlerin
Und dann gab es Leute, die gar nicht wütend waren und finden, dass die Gesellschaft mal wieder abrüsten solle.
Das war ein so breites Feld und wer denkt, er weiß etwas über Wut, dem kann ich nur sagen, vergiss es. Und wer glaubt, er weiß etwas über den Osten, dem kann ich auch nur sagen, vergiss es.
Es gibt nicht den Osten. Die Welt ist so reich. Wir sollten uns vielleicht für Gespräche vornehmen, uns für einen Abend nur um ein Thema zu kümmern. Sprechen wir doch mal darüber, was man mit Liebe verbindet oder mit Wut oder mit Freude. Du wirst so viele Dinge hören und wirst erstaunt sein, wie viel reicher als das, was wir immer lesen, die Sprache und die Gedanken der Menschen sind.
Was hat Sie denn besonders überrascht?
Dass die Menschen eine sehr viel reichere Vielfalt in der Sprache haben als das, was uns gewöhnlich begegnet. Das, was wir von anderen Menschen mitbekommen, ist ja unser Umfeld und das, was wir medial gespiegelt bekommen. Medial haben sich bestimmte Dinge durchgesetzt, die als besonders klug oder als besonders common sense, also etwas, was ja jeder sagt, gelten. Die Sprache der Menschen ist aber so viel blumiger, interessanter, bunter, ungewöhnlicher.
Sie haben die Gespräche in verschiedene Themenbereiche sortiert, zum Beispiel in politische Wut, Krieg und Frieden oder Wut und Frauen. Warum?
Wir haben überlegt, wie man so Projekt fassen kann, wenn es um das Thema Wut geht. Uns war vorher nicht klar, dass es bestimmte Bereiche gibt, die die Menschen besonders beschäftigen. Wenn man die Themen aufteilt, kann man sich sehr viel intensiver mit verschiedenen Positionen auseinandersetzen, kann etwa Positionen gegeneinanderstellen. Es gibt nicht nur schwarz-weiß, es gibt wahnsinnig viele Grautöne, und diese Grautöne zuzulassen, halte ich für total wichtig.
Wenn man das in verschiedene Bereiche aufteilt, dann kriegt man einfach einen sehr viel größeren und auch widersprüchlicheren Blick auf die Gesellschaft. Den müssen wir zulassen und uns nicht immer wieder verurteilen, nur weil jemand etwas sagt, was nicht genau meiner Haltung entspricht. Das Projekt ist im Grunde genommen auch ein Aufruf zu Toleranz.
Es wird ja immer wieder gesagt, dass wir wieder mehr miteinander reden sollten, dass verschiedene Positionen, auch gegensätzliche, sich miteinander austauschen sollten. Haben Sie das auch so erfahren, dass es gut ist, mit allen zu reden?
Ja, auf jeden Fall. Ursprünglich war unser Projekt so angelegt, dass immer nur einer zu uns kommt. In Meusebach zum Beispiel, einem kleinen Dorf mit unter 100 Einwohnern im Saale-Holzland-Kreis, saß dann ein Ehepaar bei uns und dann kamen die nächsten und es entspann sich eine Art Dorfgespräch.
Da wurde das Thema Waffenlieferungen diskutiert, aber ohne den anderen niederzumachen. Die einen sagten, wir können und müssen Waffen liefern, wir können die nicht im Stich lassen und andere sagten, die Waffenlieferungen kosten Milliarden und unsere Bevölkerung hat auch Anrecht auf das Geld. Die Meinungen konnten nebeneinander stehenbleiben.
Karin Andrä schreibt beim Blumenwurf-Projekt in Weimar etwas an die Tafel.
In diesem Jahr waren Thüringer Landtagswahlen. Hat das irgendeine Rolle gespielt? Ist Politik, Landespolitik, etwas, worüber die Menschen nachdenken, was sie umtreibt?
Das hat eine Rolle gespielt. Interessant war, dass sich die politische Wut auf zwei Pole verteilt hat: AfD und Grüne. Die anderen Parteien haben bei den Leuten, mit denen wir gesprochen haben, überhaupt keine Rolle gespielt.
Außer beim Thema der nicht stattgefundenen Neuwahl. Aber das lag vielleicht daran, dass wir mit dem Thüringer Blumenwurf dort waren. Mehrfach kam im Gespräch, dass Politiker sich ihre Pfründe sichern wollen. Auch da kamen Leute, die gesagt haben, das würde ich auch machen, wenn ich da 5.000 Euro im Monat kriege, warum soll ich dann dagegen stimmen? Andere haben gesagt, das ist unmöglich, das geht überhaupt nicht.
Hat die Ost-West-Problematik eine Rolle gespielt?
Ja, Ost-West hat schon eine Rolle gespielt. Das Argument, das wir gehört haben, war, dass die Themen, die hier gesellschaftspolitisch so virulent sind, zwar im Osten und im Westen vorhanden sind, aber dass man im Westen genügend Geld hat, um die Probleme damit zuzuschütten.
Wir hatten auch Leute da, die aus dem Westen kommen, hier schon lange leben und eine ganz differenzierte Meinung dazu haben, was hier nach der Wende passiert ist.
Und Leute, die nicht begreifen, was hier nach der Wende passiert ist. Ost-West hat wirklich oft eine Rolle gespielt, deswegen ist das auch eine unserer Kategorien.
Ihr Ausgangspunkt war die Ministerpräsidenten-Wahl 2020, als Thomas Kemmerich gewählt wurde und Susanne Hennig-Wellsow ihm einen Blumenstrauß vor die Füße geworfen hat. Das wurde als Thüringer Blumenwurf in ganz Deutschland bekannt. Haben die Menschen bei Ihnen auch Blumen geworfen?
Bei uns haben sehr viele Menschen Blumen geworfen. Aber auch da gab es durchaus Unterschiede und Begründungen, warum man Blumen wirft oder nicht Blumen wirft und ob sich das gehört, echte Blumen zu werfen oder eben auch nicht.
Es gab Leute, die das verweigert haben, die haben Blumen niedergelegt oder in eine Vase gesteckt. Manche haben zwei Sträuße geworfen.
Alles, was man machen kann bei so einem Happening, ist auch passiert und was man alles machen kann, war für uns ziemlich überraschend.
War für Sie auch überraschend, dass Thomas Kemmerich aufgetaucht ist?
Thomas Kemmerich ist nicht einfach aufgetaucht, sondern ich hatte ihn speziell gefragt. Wir hatten auch Susanne Hennig-Wellsow angefragt - nicht für den Blumenwurf, weil klar ist, dass man so etwas Originäres niemals wiederholen kann, die Kopie wird ja immer schwächer.
Wir hatten ein Hintergrundgespräch von ihr zugesagt bekommen. Sie möchte mit dem Blumenwurf nicht mehr so verbunden werden. Das Gespräch wurde nach der Europawahl abgesagt und kein neues angeboten. Das ist die Leerstelle in unserem Projekt, das hätten wir gerne noch gehabt.
Thüringens FDP-Chef Thomas Kemmerich bringt zum Blumenwurf-Projekt eine Vase mit.
Thomas Kemmerich kam aber. Er hat eine Vase mitgebracht mit der Haltung, Blumen gehören in die Vase und der parlamentarische Raum bietet andere Möglichkeiten der Auseinandersetzung.
Was haben Sie persönlich aus dem Projekt mitgenommen oder gelernt?
Ich habe auf jeden Fall gelernt, dass wir nicht ärmer werden, wenn wir einander zuhören und versuchen, auch mit Leuten zu sprechen, die uns nicht täglich umgeben. Wie man das organisatorisch möglich machen kann, ist die große Frage. Aber diese Gespräche waren denkerweiternd und haben geholfen zu verstehen, was in diesem Land, was in Thüringen virulent ist.
Sie helfen auch zu begreifen, dass man nicht immer alles verurteilen muss. Es geht nicht immer nur um schwarz-weiß, es geht einfach darum, dass wir Haltungen und Meinungen, die begründet sind, zulassen können und uns nicht deswegen an die Gurgel gehen müssen.
Was bedeutet das politisch?
Das ist die große Frage für die Parteien. Ich frage mich, ob Parteien das Richtige sind, um unsere gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Oder ob es andere Möglichkeiten geben sollte.
Meinen Sie damit, dass wir eigentlich alle in der Verantwortung sind?
Ich glaube, dass jeder persönlich verantwortlich ist und auch Verantwortung hat für die Gesellschaft. Aber natürlich bin ich nicht für ganz Thüringen zuständig. Ich kann in meiner Familie mit meinen Freunden über Dinge sprechen, anstatt Krieg zu führen und auszuschließen.
Anmerkung der Redaktion: Das Interview ist für eine bessere Lesbarkeit gekürzt und an einigen Stellen leicht umformuliert worden. Inhaltlich wurde es nicht verändert. Das vollständige Interview können Sie sich im Audio anhören.
MDR (caf)