Thüringen "Wir sind ja schon sehr genügsam hier oben, aber ...": Viele offene Fragen vor Klinik-Aus in Neuhaus
Die Schließung des Krankenhauses in Neuhaus am Rennweg (Landkreis Sonneberg) treibt die Menschen in der Rennsteigregion weiter um. Bei einer Sondersitzung des Stadtrats am Montagabend waren die über 500 Plätze bis auf den letzten Stuhl belegt. Die Besucher äußerten auch existentielle Ängste. AfD-Landrat Sesselmann sieht die Schuld beim Bund. Der Neuhäuser Bürgermeister widersprach und übte Kritik am Krisenmanagement des Landrates. Die Klinik kündigte unterdessen neue Arztpraxen in der Region an.
Wie wird nach der Schließung des Krankenhauses in Neuhaus am Rennweg am 6. Dezember die Gesundheitsversorgung in der Region sichergestellt? Der scheidende Krankenhaus-Geschäftsführer Michael Renziehausen sowie der neue Geschäftsführer René Klinger und Landrat Robert Sesselmann (AfD) stellten sich am Montagabend im Stadtrat in Neuhaus den Fragen der Stadträte und Einwohner.
Gekommen waren rund 500 Menschen, um sich anzuhören, wie der Landkreis künftig eine umfassende ambulante Struktur aufbauen will.
Landrat Sesselmann nennt Millionen-Lücke und macht Bund verantwortlich
Landrat Sesselmann erklärte zu Beginn, warum die Schließung des Neuhäuser Standorts aus seiner Sicht in dieser Lage notwendig ist. Die Kliniken in Neuhaus am Rennweg und Sonneberg hätten zusammen eine Finanzierungslücke von 2,9 Millionen Euro. Komme der Kreis dem Sanierungsauftrag nicht durch die Schließung eines der Häuser nach, stünden schnell beide auf der Kippe. Gleichzeitig habe der Landkreis als neuer Träger der Kliniken keinen Handlungsspielraum. Es fehle schlichtweg das Geld in der kommunalen Kasse, um die Lücke zu schließen.
Verantwortlich für die missliche Lage ist nach Ansicht von Sesselmann der Bund. Der Landrat kritisierte vor allem, dass die Bundesregierung bis zur Krankenhausreform im kommenden Jahr für insolvente Kliniken keine Überbrückungshilfen leiste. Neuhaus am Rennwegs Bürgermeister Uwe Scheler (parteilos) hielt dem entgegen, seinem Eindruck nach sei der Standort absichtlich "ausgeblutet" und in das Defizit geführt worden.
Immerhin sei dem Krankenhaus durch die Wegnahme von Spezialstationen und OP-Kapazitäten aktiv die Wirtschaftsgrundlage entzogen worden. Scheler sprach auch von einer grundsätzlichen wirtschaftlichen Schwächung der Rennsteigregion durch die Klinik-Schließung. Wenn Arbeitsplätze wegfielen, nehme die Kaufkraft ab. Landrat Sesselmann erwiderte, dass den gekündigten Mitarbeitern eine Weiterbeschäftigung in Sonneberg angeboten worden sei.
Unabhängig davon hatte das Land die beiden Krankenhäuser in Neuhaus und Sonneberg bereits mit 15 Millionen Euro unterstützt.
Bürgerinnen und Bürger äußern existenzielle Ängste
Viele Bürgerinnen und Bürger äußerten existenzielle Ängste. Sie wollten wissen, was künftig passiert, wenn sie selbst oder ein Angehöriger einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleiden. Also sie in einer Lage steckten, in der jede Minute zählt. Klinik-Geschäftsführer Renziehausen, der als Klinik-Geschäftsführer an die Helios-Kliniken in Kassel und Warburg wechselt, wandte ein, dass diese Fälle schon jetzt nicht in Neuhaus am Rennweg, sondern in Sonneberg behandelt würden.
Dort gebe es modernere Technik und spezieller geschultes Personal. In Neuhaus am Rennweg gebe es beispielsweise keine sogenannte Stroke Unit, eine Spezialeinheit für Schlaganfall-Patienten. Schon längst wäre es daher Usus, dass Menschen mit Verdacht auf Schlaganfall zwar in die Neuhäuser Notaufnahme kommen - allerdings nur, um dort ein CT zu machen. Bestätige sich der Verdacht, gehe es per Rettungswagen nach Sonneberg: "Bringen wir Patientinnen und Patienten künftig sofort dorthin, sparen wir sogar Zeit", so der Klinikgeschäftsführer.
Uwe Scheler, Bürgermeister von Neuhaus am Rennweg.
Klinik-Chef: Zuletzt rechnerisch nur vier Personen pro Tag in der Neuhäuser Notaufnahme
Renziehausen sagte auch, dass in der Notaufnahme in Neuhaus am Rennweg bisher viele Fälle gelandet seien, die gar keine Notfälle sind. Die Menschen nutzten das Krankenhaus, weil es zu wenig Fach- und Hausärzte gibt. Pro Jahr seien in dem Neuhäuser Klinikum rund 5.000 Patienten in der Notfallaufnahme behandelt worden. Das entspreche 19 Patienten am Tag, von denen im Schnitt laut Statistik sechs aufgenommen wurden.
Wir wissen, dass Patientinnen und Patienten derzeit oft viele Anrufe tätigen müssen, bevor sie einen Termin bei einem Haus- oder Facharzt bekommen Michael Renziehausen |
Nach Angaben von Renziehausen waren von diesen sechs jedoch durchschnittlich zwei gar keine stationären Fälle. So käme man rechnerisch auf am Tag vier tatsächliche Notfall-Patienten - eine Zahl, die gut von umliegenden Häusern in Sonneberg oder Coburg übernommen werden könnte, so Renziehausen.
Das Krankenhaus in Neuhaus soll noch im Dezembeer geschlossen werden.
Zwei neue Hausarztpraxen und eine internistische Praxis genehmigt
Laut dem Geschäftsführer ist es grundsätzlich der Wille des Gesetzgebers, die Zahl der bestehenden Krankenhäuser zu reduzieren. Durch weniger Häuser und mehr Konzentration soll eine höhere Spezialisierung und schlussendlich eine bessere Behandlungsqualität erreicht werden. Renziehausen stellte dabei in Aussicht, dass die Transformation in Neuhaus zu mehr ambulanten Behandlungen für Patientinnen und Patienten auch Gutes bringen kann.
Schon genehmigt wurden zwei weitere Hausarzt- sowie eine internistische Praxis, wie an dem Abend zu erfahren war. Von dieser Aufstockung könnten viele Menschen in der Region profitieren, zumal in einer alternden Bevölkerung: "Wir wissen, dass Patientinnen und Patienten derzeit oft viele Anrufe tätigen müssen, bevor sie einen Termin bei einem Haus- oder Facharzt bekommen", so Klinik-Geschäftsführer Renziehausen.
Hier schaffe die geplante Umstrukturierung Abhilfe: "Die Frage, woher bekomme ich meine Blutdruck- oder meine Schilddrüsen-Medikamente, sind oftmals viel eklatanter als die seltenen Notfälle".
Bürgermeister fordert MVZ vor Krankenhausschließung und kritisiert Landrat
Der Neuhäuser Bürgermeister Scheler hielt dagegen. Ihn störe besonders, dass "der zweite vor dem ersten Schritt gemacht wird". Scheler forderte: Zunächst sollte das Krankenhaus in ein ambulantes medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) umgewandelt werden, bevor das Krankenhaus geschlossen wird. Er vermisse, dass bisher überhaupt keine Grundlagen geschaffen wurden, um ein MVZ zu gründen.
"Da kann man sicher auch Fördermittel beantragen. Nur hab ich noch nichts darüber gehört, dass auch nur ein Antrag gestellt wurde." Scheler zeigte sich über den Landrat verärgert. Dieser werde nicht müde, die Schuld dem Bund und dem Land zuzuschieben, anstatt an konkreten Lösungen für die Menschen in Neuhaus zu arbeiten.
Tatsächlich sind viele Fragen rund um die Neustrukturierung noch offen - und das rund anderthalb Wochen vor der Klinikschließung. Dazu gehört vor allem, wie die Abläufe mit dem Rettungsdienst möglichst effektiv organisiert werden.
Auch der Antrag auf einen zweiten Rettungswagen für die Region liegt noch bei den Krankenkassen, wie Sesselmann mitteilte. Zwar sprach er davon, "zuversichtlich zu sein", dass der Antrag positiv beschieden wird, gestand aber gleichzeitig ein, dass es noch einige Unbekannte in der Gleichung gibt: "Wir müssen sehen, wie viele Fälle es tatsächlich gibt. Und dann dafür sorgen, dass die Rettungszeiten eingehalten werden".
Wir sind ja schon sehr genügsam hier oben. Aber ich mache mir einfach Sorgen, dass der Rettungswagen besonders im Winter nicht immer durchkommt. Sabine Sesselmann | Anwohnerin
Gerade mit Blick auf die bevorstehenden kalten Monate führten diese teils noch sehr vagen Aussagen zu Unmut unter den anwesenden Einwohnern. Eine Anwohnerin beschrieb ihr Unwohlsein so: "Wir sind ja schon sehr genügsam hier oben. Aber ich mache mir einfach Sorgen, dass der Rettungswagen besonders im Winter nicht immer durchkommt."
Sabine Sesselmann (nicht verwandt mit dem Landrat) aus Neuhaus am Rennweg sorgt sich um den Rettungsdienst vor allem im Winter.
Antrag zu Kreiswechsel wohl in nächster Stadtratssitzung
Ein Einwand, der auch nach dreistündiger Diskussion nicht wirklich ausgeräumt werden konnte. Die Neuhäuser Stadtratsfraktion Freie Wähler erneuerte am Ende der Sitzung den Wunsch, einen Kreiswechsel zu prüfen. Ihr Antrag, der eine Einwohner-Abfrage vorsah, konnte jedoch aus Gründen der Geschäftsordnung nicht mehr zur Abstimmung freigegeben werden. Es ist damit zu rechnen, dass er bei einer der kommenden Sitzungen diskutiert wird.
Wie die Lage an der Notaufnahme des Saalfelder Krankenhauses nach der Schließung des Krankenhauses in Schleiz und der Einschränkungen am Kranenhaus Pößneck ist, lesen Sie hier.
MDR (jn)