Politologe sieht SPD in der Defensive "Es fehlen eigenständige Konzepte"
Zu beliebig, zu defensiv - Politikwissenschaftler Micus stellt im Interview mit tagesschau.de der SPD ein schlechtes Zeugnis aus. Vor allem vermisst er eine realistische Koalitionsaussage: Rot-Rot-Grün müsse langfristig vorbereitet werden.
tagesschau.de: Vor ihrem Parteikonvent fällt es der SPD schwer, sich eine einheitliche Meinung über die Vorratsdatenspeicherung oder die Freihandelsabkommen zu bilden. Wo liegen die Knackpunkte?
Matthias Micus: In der Diskussion über das Freihandelsabkommen TTIP geht es vor allem um die Schiedsgerichtsbarkeit: Können Unternehmen Staaten verklagen, wenn sie ihre Belange in Gefahr sehen? Und wie werden diese Gerichte dann besetzt, wie laufen die Verfahren ab? Diese Diskussion offenbart das Misstrauen der SPD-Mitglieder gegenüber der Parteiführung, eher Wirtschaftsinteressen als Arbeitnehmerbelange zu berücksichtigen. Der im Großen und Ganzen wirtschaftsliberale Kurs der SPD sorgt seit Schröder an der Basis für Unmut.
Das Thema Vorratsdatenspeicherung spricht grundsätzlich am stärksten die urbanen, gebildeten, linksbürgerlichen Milieus an und berührt am stärksten den Identitätskern der Grünen. Aber durch den Mitgliederwandel in den 1960er- und 1970er-Jahren hat sich auch die SPD akademisiert und verbürgerlicht, dadurch gewinnen solche Themen für die Sozialdemokraten an Gewicht. Individuelle Autonomie war in der alten Arbeiterbewegung als formierendes Prinzip gegenüber Geschlossenheit, Disziplin und Gefolgschaft nachrangig gewesen. Das hat sich grundlegend geändert.
tagesschau.de: Inwieweit sucht die Parteibasis auch solche Streitpunkte? Um vielleicht auch Frust über die Politik einer SPD in der Großen Koalition abzuladen?
Micus: In der sozialdemokratischen Anhängerschaft lassen sich zwei Stimmungsbilder ausmachen. Zum einen herrschen Frustration und Resignation, weil die Partei im Zustimmungstal verharrt - egal, wie sehr im Einzelnen von der Regierung SPD-Ziele umgesetzt werden. Zum anderen haben sich eben seit den ausgehenden 1990er-Jahren die Parteiführung und die Parteibasis weit voneinander entfernt.
Die SPD versäumt es auch, Alternativen zur Politik der Kanzlerin aufzuzeigen. Statt langfristig das eigene Profil zu schärfen, hofft man situativ darauf, Schwächen Merkels nutzen zu können, wie zuletzt in Zusammenhang mit der NSA-BND-Affäre. Damit wird die SPD beliebig. Der durchschnittliche Politikinteressierte kann nicht erkennen, ob und inwiefern der Mindestlohn originär sozialdemokratisch ist. Die Kanzlerin und ihre Partei sind schließlich auch irgendwie dafür.
Das war in der ersten Großen Koalition unter dem CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger anders. Damals profilierte der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller die SPD aus der Position des kleineren Koalitionspartners als die Partei, die dem Staat auch und gerade in konjunkturell schwierigen Zeiten eine aktive Rolle zuschrieb. Und außenpolitisch gab es die Ostpolitik. Solche eigenständigen Konzepte fehlen derzeit.
"Gabriel ist kein nachhaltiger Denker"
tagesschau.de: Gibt die SPD die Bundestagswahl 2017 schon auf, bevor der Wahlkampf überhaupt begonnen hat?
Micus: Derjenige, der als Kanzlerkandidat antritt, will gewinnen und glaubt auch an seine Siegchance, trotz der beschriebenen allgemeinen Verzagtheit. Allerdings unterscheiden sich auch hier wieder Führung und Basis. An der Basis dürfte der Fatalismus größer sein, als bei denen, die um die zu vergebenden Posten kämpfen.
Gewinnen kann nur, wer an sich glaubt. Und Selbstbewusstsein hat Sigmar Gabriel zweifellos, auch das erklärt auch seine Sprunghaftigkeit. Abstimmungen in Gremien oder mit Stellvertretern empfindet er als Hemmnis, die nur dazu führen, dass man den richtigen Moment verpasst und faule Kompromisse eingeht, die die Wirkung der ursprünglichen eigenen Idee verfehlen.
tagesschau.de: Ist Gabriel überhaupt der richtige Mann als Parteivorsitzender?
Micus: Gabriel besitzt eine hohe situative Intelligenz und ein enormes Gefühl für Stimmungen. Aber er ist kein - wenn man so will - nachhaltiger Denker. Es gehört nicht zu seinen Prioritäten, über den Tag hinausweisende Konzepte zu entwickeln. Nun kann man sagen, das gehört auch nicht zu den originären Aufgaben eines Vizekanzlers und Parteichefs. Aber auch andere Orte langfristigen Nachdenkens sind in den Hintergrund getreten. Früher konnte sich die Mitarbeit in einem solchen Gremium als Karrieresprungbrett erweisen. Das ist nicht mehr der Fall, weswegen die begabten Leute sich auch nicht mehr dort engagieren. Wer etwa kennt heute noch die Grundwertekommission?
tagesschau.de: Welche Möglichkeiten hat die SPD, das Steuer doch noch rumzureißen?
Micus: Die SPD muss eigene Koalitionsalternativen aufzeigen, die eine realistische Perspektive für die Regierungsführung eröffnen. Das bedeutet: Rot-Rot-Grün. Eine solche Koalitionsoption muss aber langfristig geplant und entwickelt werden. Beispiele aus Skandinavien zeigen, dass man rund zwei Jahre braucht, um zunächst hinter verschlossenen Türen vertrauensvoll gemeinsame Papiere zu erarbeiten, in denen alle Partner Abstriche von Maximalforderungen akzeptieren. Dadurch kann man, wenn man schließlich an die Öffentlichkeit tritt, den Wählern auch die Angst vor einem solchen Bündnis zu nehmen.
Davon ist die SPD derzeit weit entfernt. Stattdessen steckt sie in der Zwickmühle der fehlenden Machtalternative zu Angela Merkel einerseits und der Wählerangst vor einem Bündnis mit der vermeintlich regierungsunfähigen Linkspartei andererseits.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de