Berliner Stimmen zur Türkei-Wahl Ernüchterung nach Erdogans Sieg
Nach Erdogans Wiederwahl in der Türkei kommen aus Berlin die üblichen Gratulationen - aber es ist auch Ernüchterung, die deutsche Politikerinnen und Politiker zum Teil klar zum Ausdruck bringen.
"Gratulation an Präsident Erdogan zur Wiederwahl", schreibt Bundeskanzler Olaf Scholz via Twitter. Die Türkei und Deutschland seien enge Partner und Alliierte. Nun gehe es darum, die gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben.
Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier setzt auf eine "Festigung guter Beziehungen zwischen den beiden Ländern". Er wünscht dem wiedergewählten Präsidenten eine glückliche Hand. "Angesichts der besonders engen menschlichen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen unseren Ländern kommt dem deutsch-türkischen Verhältnis ganz besondere Bedeutung zu."
"Präsident Erdogan, wir müssen reden"
Ganz anders der Tonfall von SPD-Politiker Michael Roth im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. "Präsident Erdogan, wir müssen reden", sagte er. Es gebe eine ganze Menge, was in den nächsten Wochen und Monaten zu klären sei. Die Liste ist in der Tat lang, die Roth als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses aufmacht. Es ist eine Liste offener Fragen.
Kann die Türkei eine verlässliche Rolle in der NATO spielen? Heißt: wird sie ihr Veto gegen Schwedens Beitritt aufgeben? Wird sie künftig Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte annehmen, etwa zur Freilassung von Menschenrechtsaktivisten?
Auch Linken-Co-Chefin Janine Wissler erinnert an die vielen Inhaftierten in der Türkei. Bei Twitter schreibt sie: "Es ist so bitter." Gar von einem "schwarzen Tag für Menschenrechte und Demokratie" spricht der Linken-Abgeordnete Bernd Riexinger.
Die Türkei und die Europäische Union
Roth stellt zudem die Grundsatzfrage, ob eine sich immer weiter nach Erdogan ausrichtende Türkei wirklich noch Kandidat der Europäischen Union sein kann. Zumindest diese Frage hat der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter für sich schon beantwortet. Die EU und die NATO, in der die Türkei bereits seit 1952 Mitglied ist, müssten künftig noch enger zusammenarbeiten - dafür sei die Türkei unverzichtbar. "Deswegen sollte man den Beitrittsprozess eben genau nicht auf Eis legen."
Doch auch Kiesewetter erwartet, dass das Verhältnis schwieriger werden wird. Die Wiederwahl werde Erdogan "in seiner für uns sehr erratischen Haltung stärken". Das heißt für Kiesewetter: noch mehr Emanzipation von NATO und EU, deutlich mehr Ausrichtung in den Mittleren Osten.
Schaukelpolitik gegenüber Russland
Auch für SPD-Politiker Roth ist das Verhältnis des Landes zum "Team Westen" unklar. Er unterstreicht, die Türkei trage die Sanktionen gegen Russland nicht mit, und Erdogan sei mit Russlands Präsident Wladimir Putin befreundet. Das ermögliche zwar auch Verhandlungen mit Russland, doch aus seiner Sicht ist für viele in Europa mit der Wiederwahl ein Traum zerplatzt. "Der Traum von einer Türkei, die sich wieder Europa und seinen Werten zuwendet, die wieder zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit zurückfindet."
Roth spricht von einer Schaukelpolitik gegenüber Russland. Genau diesen Begriff verwendet auch Martin Erdmann, der zu Merkels Zeiten Botschafter in Ankara war. Aus seiner Sicht haben sich die Koordinaten in der Türkei verschoben: hin zu einem stärkeren Nationalismus und Illiberalismus. Erdmann spricht angesichts des Wahlergebnisses von einer Zäsur.
Autokorsos in Deutschland
In Deutschland feierten Anhänger Erdogans den Wahlsieg ihres Wunschkandidaten mit Autokorsos, zum Beispiel am Ku'damm in Berlin, in Dortmund, Düsseldorf in Mannheim. Wie könne man in der Türkei einen Autokraten wählen, wenn man doch hierzulande die Vorzüge eines demokratischen Rechtsstaats genießt, fragt SPD-Mann Roth.
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir schreibt bei Twitter, das seien keine Feiern harmloser Anhänger eines etwas autoritären Politikers. "Sie sind eine nicht zu überhörende Absage an unsere pluralistische Demokratie." Das sei auch ein "Zeugnis unseres Scheiterns", schreibt Özdemir.
Für die AfD schlussfolgert Rüdiger Lucassen: "Integration ist ein Märchen". CDU-Vertreter Kiesewetter zieht den gegenteiligen Schluss: Deutschland müsse noch stärker auf Integration setzen.