Interview

Grünen-Politikerin Beck zum Umgang mit Kiew "Die Ukraine ist nicht China"

Stand: 26.04.2012 17:10 Uhr

Scharfe Kritik und Mahnungen: Der Westen erhöht den Druck auf Kiew. Aber reicht das? Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck fordert den kritischen Dialog mit dem Regime. Den Boykott der Fußball-EM lehnt sie ab. Anders als in Weißrussland und China habe die Opposition eine Stimme, so Beck gegenüber tagesschau.de.

tagesschau.de: Was wissen Sie über den Gesundheitszustand von Julia Timoschenko und ihre Haftbedingungen. Wie geht es ihr?

Marieluise Beck: Ich habe Kontakt zu ihrer Tochter und ihren Anwälten. Von dort höre ich beunruhigende Nachrichten. Neben der Rückenerkrankung klagt Frau Timoschenko über blaue Flecken am ganzen Körper. Sie vermutet, diese könnten die Folge einer Vergiftung sein. Wir neigen ja dazu, solche Informationen als Übertreibung oder sogar Phantasiegebilde einzuschätzen. Allerdings sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass vor Jahren der Oppositionspolitiker Wiktor Juschtschenko Opfer einer Dioxin-Vergiftung wurde.

Zur Person
Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck ist seit 1983 Mitglied des Deutschen Bundestages. Unter Rot-Grün war sie Migrationsbeauftragte der Bundesregierung. Seit 2005 ist Beck Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Im Europarat ist sie zuständig für die Berichterstattung zur Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine.

tagesschau.de: Menschenrechtsaktivisten sprechen von Folter im Falle von Julia Timoschenko. Stimmen Sie dem zu?

Beck: Leider haben westliche Beobachter keinen Zugang zu den Haftanstalten, so fällt es schwer, die Lage einzuschätzen. Sicher lässt sich sagen, dass Frau Timoschenko die ärztliche Versorgung, die sie bräuchte, verwehrt wird. Die Haftbedingungen in der Ukraine - so wie in den anderen Transformationsländern - sind dramatisch. Sicher ist auch, dass die Untersuchungshaft in einer Art und Weise angewandt wird, die gegen alle Rechtsstaatsprinzipien verstößt. So ist Julia Timoschenko nach ihrer Verurteilung in einem neuen Verfahren wieder in den Zustand eines U-Häftlings versetzt worden. Sie war dann in ihrer Zelle, während sie krank darniederlag und nicht vernehmungsfähig war, über 10 Stunden den Befragungen der Staatsanwälte ausgeliefert. Das ist für ein Land, das sich Richtung der EU orientieren möchte, beschämend.

tagesschau.de: Bundespräsident Gauck hat eine Einladung abgelehnt, er wird nicht in die Ukraine reisen. Wie finden Sie das?

Beck: Dies ist ein deutliches Warnsignal in Richtung Ukraine, das dort sehr wohl verstanden wird - auch vor dem Hintergrund der Biografie des Bundespräsidenten. Diese Geste zeigt deutlich, dass Gauck ein Präsident ist, auf dessen Agenda die Werte Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ganz oben stehen. Natürlich wird er nicht umhinkommen, während seiner Amtszeit auch Staatsoberhäupter aus nicht demokratischen Staaten zu treffen und beides unter einen Hut zu bringen: Begegnung und offene Kritik.

tagesschau.de: Wie sinnvoll wäre ein Boykott der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine, um den Druck auf das Regime zu erhöhen?

Beck: Solange es während der Fußball-EM Möglichkeiten gibt, sich im Land mit Oppositionellen zu treffen und dort deutliche Worte zu sprechen, sollten wir das tun. Und diese Möglichkeiten gibt es. Das unterscheidet die Ukraine von Weißrussland, weshalb ich dort für die Verlegung der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 in ein anderes Land bin.  

Im Fall der Ukraine plädiere ich für kritische Berichterstattung, für demonstrative Besuche bei kritischen Oppositionsgruppen, für Anträge, Julia Timoschenko und andere Oppositionspolitiker in der Haft besuchen zu dürfen, ihnen so Gehör zu verschaffen und das Recht auf einen fairen Prozess und ärztliche Behandlung einzufordern. Ich fände es richtig, wenn Bundeskanzlerin Merkel den Spielen in der Ukraine fern bliebe. Wir sollten deutliche Zeichen setzen, aber die Europameisterschaft nicht boykottieren. Denn das würde zu einer Verhärtung der Lage und einer Abschottung des Landes führen, die der Opposition nicht nutzt, sondern schadet.

"Die Bevölkerung bei ihrem Wunsch zum EU-Beitritt unterstützen"

tagesschau.de: Das erinnert ein wenig an die Diskussionen über einen Boykott der olympischen Spiele in China. Der Westen hoffte damals im Zuge der Spiele auf Reformen, am Ende konnte die Führung in Peking glänzen und hat keinerlei Reformbestrebungen eingeleitet.  

Beck: Ich gebe Ihnen Recht:Während der Olympischen Spiele ist in China die Zahl der Hinrichtungen sogar noch verdoppelt worden. Meiner Einschätzung nach sind die Verhältnisse in der Ukraine aber mit denen in China nicht vergleichbar. Es gibt in der Ukraine eine Opposition, die im Parlament sitzt und sich äußern kann. Es gibt - mit Einschränkungen - eine kritische Presseberichterstattung.

Generell gilt, dass Diktaturen sportliche Großereignisse dazu nutzen, sich zu brüsten und salonfähig zu werden. Andererseits gilt aber auch: Wenn wir wirklich strenge Maßstäbe anlegen, könnten wir wohl nur in höchstens 60 Ländern dieser Erde sportliche Großereignisse feiern.

tagesschau.de: Welche Möglichkeiten hat die EU, Druck auf die Ukraine auszuüben?

Beck: Es gibt den Wunsch der Ukraine, ein Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen. Die ukrainische Opposition hat die EU darum gebeten, trotz der innenpolitisch zugespitzten Lage dieses Abkommen zu unterzeichnen. Die EU hat das Abkommen zwar vorerst nicht unterzeichnet, aber paraphiert. Sie signalisiert damit: Wir im Westen sehen die Bürger der Ukraine als Europäer und langfristig auch als Bürger der EU. Ich halte das für sehr klug. Ich glaube sogar, diese Zeichen sollte die EU noch wesentlich deutlicher aussenden. Denn wir dürfen nicht nur auf das Regime schauen, sondern müssen vor allem die Bevölkerung unterstützen. Und der Wunsch der Ukrainer nach Reformen, einer Öffnung zum Westen und der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist sehr groß.

Das Interview führte Simone von Stosch.