Umgang mit Putin Alles auf Abstand
In Berlin gestehen Politiker reihenweise ein, dass sie den russischen Präsidenten falsch eingeschätzt haben. Doch wie könnte der Umgang mit Putin in Zukunft aussehen?
Ende einer Epoche, Zeitenwende, Zäsur - parteiübergreifend ist man sich über eines einig im politischen Berlin: Das Europa vor dem 24. Februar, dem Beginn von Wladimir Putins blutigem Angriffskrieg gegen die Ukraine, war ein anderes als das Europa, in dem man künftig leben wird.
"Er will damit durchkommen, das internationale Recht zu brechen. Er will zeigen, liberale Demokratien wehren sich nicht, aber das Gegenteil ist der Fall", erklärte Außenministerin Annalena Baerbock in der ARD und verwies auf die EU-Sanktionspakete. Auf Isolation Putins, auf Ausschluss aus der internationalen Gemeinschaft setzt die Bundesregierung.
Doch das ist nicht alles: "Wir haben eine harte Lektion gelernt", bekennt Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul. Nun müsse man sich darauf einstellen, dass "internationale Verträge und Diplomatie nicht alles sind, sondern dass man auch militärische Stärke benötigt". Die NATO verlegt ihre schnelle Eingreiftruppe, mehrere tausend Soldaten. Die Bundeswehr stärkt die osteuropäischen Bündnispartner.
Abschreckung als Gebot der Stunde
Abschreckung lautet das Gebot der Stunde, womöglich der nächsten Jahre. "Ich glaube, dass wir uns auf einen dauerhaften Konflikt mit Russland einstellen müssen, in der NATO und der EU. Und das bedeutet, dass wir Abschreckung neu denken müssen", sagt die Außenpolitikexpertin Jana Puglierin von der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR) im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio.
So löst denn nun auf einmal echte Sorge aus, was bislang oft als Nörgelei von Bundeswehr-Folkloristen abgetan wurde: Dass die deutschen Streitkräfte ihrem Abschreckungsanspruch in vielerlei Hinsicht nicht gerecht werden - und ihre NATO-Verpflichtungen oft nur mit Müh und Not erfüllen können.
Bundesfinanzminister Christian Lindner fand das Thema so wichtig, dass er ein eigentlich schon beendetes Interview mit Sandra Maischberger in der ARD von sich aus verlängerte, weil er noch über die Bundeswehr reden wollte. "Ich habe Sorge, dass wir die Bundeswehr so sehr vernachlässigt haben, dass sie ihrem Auftrag nicht gerecht werden kann", befand der FDP-Politiker. Und warb - für einen Minister, der auf die Haushaltskasse zu achten hat, nicht selbstverständlich - für höhere Verteidigungsausgaben.
Mehr Druck, weniger Dialog?
Wenn über Jahre im Umgang mit Russland stets von der Doppelstrategie aus "Druck und Dialog" die Rede war, so dürften Deutschland und Europa künftig eindeutig fast sämtliches Gewicht in die Druck-Waagschale legen. Selbst der wohl intensivste Dialog mit Moskau überhaupt in den vergangenen Wochen hielt den russischen Präsidenten nicht davon ab, seinen friedlichen Nachbarn zu überfallen. Es hielt ihn nicht davon ab, die Welt, seine Pläne betreffend, mehrfach schamlos anzulügen und die Jahrzehnte alte europäische Friedensordnung zu zertrümmern.
Es sei an der Zeit, aufzuwachen, sagt die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin:
Wir haben die Warnzeichen lange nicht gesehen 2008 in Georgien, 2014 bei der Krim-Annexion. Wir müssen realisieren, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der seine Ziele knallhart mit militärischen Mitteln verfolgt.
Energie: Zu sehr abhängig von Moskau
Die Einsicht, dass man einem Russland, das auf das Recht des Stärkeren setzt, nur mit Stärke begegnen kann, ist das eine. Doch auch beim Thema Energie setzt sich nun spät die Lesart durch, dass man sich zu sehr von Moskau abhängig gemacht hat: 55 Prozent seines Gasbedarfs deckt Deutschland aus Russland. Nun geht es nicht nur darum, sich um andere Zulieferer umzusehen, sondern auch, sich durch den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien unabhängiger - und weniger erpressbar - zu machen.
Alles ist derzeit darauf ausgerichtet, Russlands Präsident Putin auf Abstand zu halten: wirtschaftlich, politisch, militärisch. In dem Moment, in dem er näher denn je an die NATO-Grenze heranzurücken scheint.