Experte analysiert deutsche Infrastruktur Ein einig Land von Schlaglöchern?
Bröckelnde Brücken, marode Straßen - Schlaglöcher will Verkehrsminister Dobrindt mithilfe der Pkw-Maut stopfen. Seit Jahren wird darüber erbittert gestritten. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Verkehrsexperte Wolfgang Stölzle, wie die Maut Sinn macht.
tagesschau.de: Wie steht es um die deutsche Infrastruktur? Wo bröckelt es am stärksten?
Wolfgang Stölzle: Wir stellen nicht flächendeckend große Mängel fest, aber punktuell. Allein die Brücken deutscher Autobahnen, wie auf dem Kölner Ring, müssen zum Teil für den Schwerverkehr ganz gesperrt werden, zum Teil sind sie nur mit reduzierter Geschwindigkeit befahrbar. Neuralgische Verkehrsknotenpunkte gibt es zum Beispiel auch im Berliner, Münchner oder Stuttgarter Raum. Da besteht erheblicher Nachholbedarf.
tagesschau.de: Warum ist es überhaupt so weit gekommen?
Stölzle: Ein Grund dafür ist, dass die deutsche Verkehrspolitik sich über Jahre auf den Ausbau der Infrastruktur konzentriert hat, also auf den Bau von neuen Straßen. Sie hat aber den Substanzerhalt vernachlässigt. Inzwischen gilt die Devise "Substanzerhalt vor Erweiterung". Bis dieser Kurswechsel realisiert und messbar ist, dauert es. Außerdem wurde für den Aufbau Ost in den 90er-Jahren ein erheblicher Teil der Investitionen abgezogen, da er politisch gewollt war und hohe Priorität hatte.
Darüber hinaus wird die Qualität von Infrastruktur subjektiv wahrgenommen: Ein Lkw-Fahrer empfindet Schlaglöcher auf einer Strecke, die er vielleicht nur einmal fährt, als weniger stark belastend als ein Pkw-Fahrer, der pendelt und diese Schlaglöcher täglich erlebt.
tagesschau.de: Was bedeutet das für die Politik?
Stölzle: Die Politik ist zum einen vom Föderalismus getrieben. Viele Bundestagsabgeordnete fühlen sich vor allem ihrem Wahlkreis verpflichtet und betreiben auch ein Stück Lobbyarbeit. Zum anderen können Steuermittel nur einmal verteilt werden. Das, was in die Infrastruktur fließt, geht auf Kosten alternativer Investitionen, zum Beispiel im sozialen oder kulturellen Bereich.
Die Pkw-Maut als Gelddruckmaschine?
tagesschau.de: Eine Maßnahme, den Problemen zu begegnen, soll ja die heftig umstrittene Pkw-Maut sein. Was halten Sie davon?
Stölzle: Mauten sind dann ein geeignetes Mittel, wenn man von dem Grundsatz "Wer nutzt, bezahlt auch" ausgeht. Alternativ dazu kann man auch eine Steuerfinanzierung anstreben, also aus dem allgemeinen Staatstopf. Entscheidet man sich für eine Maut, muss man sie sinnvoll gestalten.
Das jetzt diskutierte Konzept ist ein sehr grobkörniges: Bestimmt werden allein verschiedene Zeitintervalle von zehn Tagen, zwei Monaten oder einem Jahr, unabhängig davon, wie intensiv in dieser Zeit die Infrastruktur genutzt wird. Damit vergibt man die Chance, die gefahrenen Kilometer zu berücksichtigen oder auch Verkehrsströme über den Tag steuern zu können. Wer die Berliner Stadtautobahn zwischen 16 und 18 Uhr nutzt, würde dann mehr bezahlen als der, der zwischen 22 und 24 Uhr fährt. Über Smartphones und Apps ließen sich solche Daten relativ leicht erheben.
tagesschau.de: Warum ist die Pkw-Maut in Deutschland so ein Erregungsthema?
Stölzle: Für den Verkehr gilt dasselbe wie für den Fußball: Jeder weiß Bescheid und jeder weiß es besser. Dazu kommt das kulturelle Phänomen, das da heißt "Freie Fahrt für freie Bürger". In Deutschland hat diese Devise im Gegensatz zu anderen Ländern einen hohen Stellenwert. Auch die Diskussion über Tempolimits ist sehr emotional. Welcher Politiker setzt sich dem aus, wenn er wieder gewählt werden will? Deswegen wird Verkehrspolitik vor allem zögerlich und halbherzig gestaltet.
tagesschau.de: Was müsste denn geschehen?
Stölzle: Vor allem muss geklärt werden, wer über welches Geld verfügen darf. Das Beispiel der Lkw-Maut zeigt das deutlich. Da fließen gute vier Milliarden Euro dem Bund zu und der Verkehrsminister, egal wie er heißt, muss diese Summe erst mal an den Finanzminister abgeben. Danach muss er darüber verhandeln, was er wieder zurück bekommt. Eine geeignet gestaltete Infrastrukturabgabe würde dagegen sicherstellen, dass das eingenommene Geld auch für die Infrastruktur ausgegeben wird. Wobei Infrastruktur ja auch die Bahn, den Schiffs- und Flugverkehr einschließt.
"Es ist fünf vor zwölf!"
tagesschau.de: Wie sieht Ihre Prognose aus, wenn nichts geschieht?
Stölzle: Alle Verkehrsexperten sind sich einig: Es ist fünf vor zwölf! Aber die deutsche Infrastruktur wird nicht von einem Tag auf den anderen zusammenbrechen. Der Prozess verläuft schleichend, was den politischen Handlungsdruck scheinbar abmildert. Vergessen werden darüber die langen Planungsvorläufe von mindestens fünf bis zehn Jahren. Deswegen wird es allerhöchste Zeit, dass die entsprechenden Budgets bereit gestellt werden und man überhaupt in die Planung einsteigt.
tagesschau.de: Sie leben und lehren in der Schweiz. Was können die Deutschen von den Schweizern lernen?
Stölzle: Die Deutschen sollten auf keinen Fall das Schweizer Modell der Vignette übernehmen. Das ist die noch schlechtere Lösung, weil die Vignette gar keine Nutzungsintensität berücksichtigt, noch nicht einmal die auf einer Zeitachse. Sie zahlen 40 Franken, egal ob Sie einmalig für zwei Kilometer durch die Schweiz fahren oder das ganze Jahr täglich die Autobahn nutzen.
Aber: Der Staat baut Fonds für große Infrastrukturprojekte auf. Diesen politischen Entscheidungen liegen in der Regel Volksabstimmungen zugrunde. Das führt zu einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Kehrseite der Medaille: Verkehrsprojekte sind hochkomplex. Ich bezweifele, dass sie von jedem so durchschaut werden, dass er tatsächlich mit "Ja" oder "Nein" antworten kann. Mein Eindruck insgesamt ist, dass die Schweizer Straßen besser in Schuss sind als die deutschen.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de