Russische Dissidenten demonstrieren am 22. Februar 2022 in Berlin für Frieden.
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Russische Wehrdienstpflichtige Abschiebung in den Krieg

Stand: 11.11.2024 07:01 Uhr

Jungen russischen Wehrdienstverweigerern droht die Abschiebung nach Russland. Dazu trägt eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg bei. In Bezug auf die Krim macht es sich die Sichtweise des Kreml zu eigen.

Von Silvia Stöber, tagesschau.de und Vladimir Esipov, Deutsche Welle

Die Bundesregierung strebt an, mehr Menschen ohne Aufenthaltsstatus aus Deutschland abzuschieben. Auch nach Russland gab es in den vergangenen Monaten Abschiebungen, nachdem diese mit Beginn der Invasion Russlands in der Ukraine am 24. Februar 2022 fast zum Erliegen gekommen waren.

Die aktuellste Zahl gab das Bundesinnenministerium für August an. Demnach wurden in dem Monat acht russische Staatsangehörige in ihr Heimatland abgeschoben - auch wenn es kaum direkte Behördenkontakte und keine Direktflüge dorthin gibt.

Angaben des Bundesinnenministeriums zu Abschiebungen russischer Staatsangehöriger im Jahr 2024
Monat Abgeschobene russische Staatsangehörige davon nach Russland
Januar 51 3
Februar 29 1
März 25 3
April 31 4
Mai 26 2
Juni 38 6
Juli 23 5
August 36 8

Oberverwaltungsgericht hebt Schutz auf

Nun könnte es vermehrt junge Männer im wehrfähigen Alter treffen, die sich bisher darauf berufen konnten, dass sie wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ein Anrecht auf Schutz in Deutschland haben.

Eine entsprechende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. September 2023 wurde inzwischen aufgehoben, und zwar vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) am 22. August dieses Jahres (Aktenzeichen OVG 12 B 17/23).

Als Präzedenzfall verwendet

Im konkreten Fall ging es um einen jungen Tschetschenen russischer Staatsangehörigkeit, der in Deutschland kriminell geworden war und gegen seine Abschiebung nach Russland geklagt hatte.

Die Begründung, die der 12. Senat des OVG für die Rückweisung der Klage gibt, weist jedoch über den konkreten Fall hinaus: Die Entscheidung werde nun in der Rechtsprechung als Präzedenzfall aufgegriffen, sagt Rechtsanwalt Mersad Smajic, der den russischen Staatsangehörigen juristisch vertritt: In einem weiteren Fall eines grundwehrdienstpflichtigen Tschetschenen habe das Verwaltungsgericht Halle in Sachsen-Anhalt "vollumfänglich Bezug auf das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg genommen".

Rudi Friedrich, Geschäftsführer des Vereins Connection, der Kriegsdienstverweigerer unterstützt, bestätigt: "Natürlich hat es den Charakter eines Präzedenzfalls. Die Verwaltungsgerichte in Berlin und Brandenburg müssen sich daran halten, weil das Oberverwaltungsgericht eine Gesetzesinterpretation vorgibt und die anderen Gerichte sich erst mal daran halten müssen."

Gerichte in anderen Bundesländern könnten anders argumentieren, so Friedrich. "Zu befürchten ist aber, dass sie ähnlich entscheiden." Der Fall aus Sachsen-Anhalt deutet darauf hin. Auch Behörden wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beziehen Gerichtsentscheidungen in ihre Bescheide ein.

Grundwehrdienst kein Grund für Schutzstatus

Das Gericht argumentiert, dass dem Kläger in Tschetschenien zwar eine Zwangsrekrutierung zum Einsatz in der Ukraine drohe. Es könne ihm aber zugemutet werden, dass er sich anderswo in Russland niederlässt.

Dort könne er wie andere junge Männer zwar zum Grundwehrdienst eingezogen werden, erkennt das Gericht an. Das Richtergremium führt aber eine Reihe von Gründen an, warum dies keinen Schutz vor Abschiebung rechtfertige. So heißt es, dass es aktuell keine Hinweise auf eine Teilnahme russischer Grundwehrdienstleistender an Kampfhandlungen in der Ukraine gebe. Sie würden zum Grenzschutz entlang der Grenze zur Ukraine und auf der Krim eingesetzt.

Einsatz auf der Krim

Dann führt das Richtergremium aus, dass eine Teilnahme an Kampfhandlungen in Russland der Verteidigung eigenen Territoriums diene und "keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" im Sinne des Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstelle, die rechtliche Grundlage für den Schutzstatus in Deutschland ist.

In Bezug auf die Stationierung Wehrpflichtiger auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim stellen die Richter dann fest, dass es sich dabei "im Ergebnis nicht anders verhält" als in Russland selbst:

Die Russische Föderation betrachtet dieses Gebiet nach der völkerrechtswidrigen Annektierung als russisches Territorium, so dass der militärische Einsatz dort der Aufrechterhaltung des geschaffenen Zustands dient. Direkte Kampfhandlungen gegen die Ukraine finden auf der Krim nicht statt, so dass die Unterwerfung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bei einem dortigen Einsatz nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

Damit drohe keine Verstrickung in den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zusammenfassend stellt das OVG fest, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nicht vorlägen.

"Schleichende Anerkennung"

Scharfe Kritik an dieser Argumentation äußert Robin Wagener, Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit dem Südlichen Kaukasus, der Republik Moldau und Zentralasien im Auswärtigen Amt:

"Eine scheinbar schleichende Anerkennung der illegalen Krym-Annektion ist alarmierend. Die Krym ist ukrainisch und täglich von neuen Kampfhandlungen bedroht. Kein Organ unseres Staates sollte den Eindruck erwecken, dass die 'Aufrechterhaltung des geschaffenen Zustands' als legitim betrachtet würde. Diese Entscheidung darf keinen Präzedenzfall schaffen", warnt der Grünen-Bundestagsabgeordnete, der bis zu seiner Wahl als Richter am Sozialgericht Münster tätig war.

Recht auf Kriegsdienstverweigerung

Wagener weist außerdem auf "unzählige Belege für den Einsatz von schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen in Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg". Erst kürzlich seien unzählige Wehrpflichtige in den Schutz der ukrainischen Kriegsgefangenschaft genommen worden. "Immer wieder gibt es Berichte, dass russische Soldaten unter Androhung von Tötung oder Folter durch ihre Vorgesetzten zu Einsätzen gegen die Ukraine gezwungen werden." Er könne die Entscheidung deshalb nicht nachvollziehen.

Wagener fordert: "Wer als russischer Kriegsdienstverweigerer nach Deutschland flieht, sollte bei uns aufgenommen werden. Aus Achtung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Und weil jeder, der nicht als Soldat für dieses kriminelle Regime Putin kämpft, auch keinen Beitrag zu den Kriegsverbrechen in der Ukraine leisten kann."

Der Verein Connection vertritt ebenfalls diese Forderung - auch mit Hinblick darauf, dass sich die Soldaten im Einsatz rechtswidrigen Anordnungen praktisch nicht widersetzen können.

Realitäten in Russland nicht ausreichend berücksichtigt

Artjom Klyga, als Anwalt in Russland auf Militärrecht spezialisiert und im deutschen Exil als Aktivist für Wehrdienstverweigerer aktiv, sieht in der OVG-Entscheidung Kritikpunkte an der deutschen Rechtsprechung zu Russland insgesamt bestätigt: "Wir haben bereits ein gutes Dutzend solcher Gerichtsbeschlüsse aus ganz Deutschland, in denen die Gerichte die russische Realität einfach nicht berücksichtigen."

Klyga kritisiert, dass zum Beispiel Angaben des russischen Verteidigungsministeriums einfach als Quelle angegeben würden. "Ich würde nicht sagen, dass die deutschen Gerichte die Positionen der russischen Regierung übernehmen. Ich deute es als Unwillen, die Informationen von Menschenrechtlern und den Vereinten Nationen zu berücksichtigen. Es ist doch so viel einfacher, von den staatlichen russischen Medien abzuschreiben, die behaupten, es gäbe keine Mobilmachung."

Keine Angaben zu Gründen für Asylanträge

Wie viele russische Staatsangehörige als Kriegsdienstverweigerer in Deutschland anerkannt wurden, darüber sei keine valide Aussage möglich, teilt das BAMF mit. Denn: "Die Gründe, die die Antragsteller im Rahmen Ihrer Anhörung vortragen, werden statistisch nicht erfasst."

Im Zeitraum vom 24. Februar 2022 bis zum 30. September 2024 stellten nach Angaben der Behörde 5.381 Männer russischer Staatsangehörigkeit im Alter zwischen 18 und 45 Jahren einen Asylantrag. Davon seien 3.344 entschieden worden - 1.091 negativ.

Angaben des BAMF zu Asylanträgen von Männern zwischen 18 und 45 Jahren aus der Russischen Föderation
Russ. Erst- und Folgeantragsteller im Alter zwischen 18 und 45 Jahren (Männer) Personen
Anträge gesamt (24.02.2022 – 30.09.2024) 5.381
davon entschieden 3.344
Davon Anerkennung Art. 16a GG 57
Flüchtlingsschutz gem. § 3 I AsylG 132
subsidiärer Schutz gem. § 4 I AsylG 22
Abschiebungsverbot 0
Ablehnung 1.091
kein weiteres Verfahren durchzuführen 227
formelle Verfahrenserledigung 1.815
Anhängig 2.037

Nachweis für drohende Verfolgung

Das BAMF teilt mit, dass Deserteure aus der Russischen Föderation, die sich nicht am russischen Angriffskrieg beteiligen wollten, "regelmäßig internationalen Schutz erhalten" dürften. Das BAMF habe seine Entscheidungspraxis hierzug nach Kriegsbeginn angepasst. Es bleibe jedoch eine Einzelfallentscheidung, bei der auch eine Sicherheitsprüfung stattfinde, ebenso eine Prüfung, ob es zum Beispiel eine Beteiligung an Kriegsverbrechen gab.

Personen, die gar nicht erst in die Armee eingezogen werden wollen, könnten ebenfalls einen Asylantrag stellen. Für einen internationalen Schutz müsse jedoch nachgewiesen werden, dass im Herkunftsland Verfolgung drohe.

Beschwerde gegen Nichtzulassung der Revision

Am OVG Berlin-Brandenburg allein ist derzeit, bezogen auf "junge Männer russischer Staatsangehörigkeit, die bei einer Rückkehr eine Einziehung zum Wehrdienst befürchten", nach Angaben von Sprecher Thomas Jacob "ein gutes Dutzend Verfahren anhängig".

Für den Fall des jungen Tschetschenen hat das OVG keine Revision zugelassen. Sein Anwalt Mersad Smajic hat dagegen eine Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Die Entscheidung dazu steht noch aus. Anwendung findet sie dennoch bereits.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. September 2024 um 09:30 Uhr.