"Königreich Deutschland" steht auf dem Hemd des Reichsbürger-Aktivisten Peter Fitzek im Landgericht Dessau
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"Reichsbürger"-Szene Kinder im Visier

Stand: 02.10.2024 05:07 Uhr

Männlich, weiß, bewaffnet - so stellt man sich den typischen "Reichsbürger" vor. Doch die Szene wandelt sich. Laut BR-Recherchen werden zunehmend gezielt Frauen rekrutiert und Kinder früh auf Linie gebracht.

Von Eva Achinger und Christiane Hawranek, BR

"Nehmt alle Kinder aus Kindergärten und Schulen, bevorzugt Hausgeburten (...) es geht um das Überleben eures Volkes und die Befreiung eures Landes", heißt es in einem Telegram-Post, der mehr als 70.000-mal angesehen wurde. Ein anderer Post aus einem Kanal, in dem "Reichsbürger"-Inhalte geteilt werden, fordert, Kinder zu Hause zu unterrichten, um sie nicht "staatlicher Indoktrination auszuliefern".

In weiteren Beiträgen in dem sozialen Netzwerk werden Kinderkrippen als "Kinderkonzentrationslager" bezeichnet und Schulen als Orte der "Hirnwäsche".

Erst geht es um Babys, dann um extremistische Inhalte

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus 1.700 Telegram-Gruppen und 370 Reichsbürger-nahen Kanälen, die Reporterinnen des Bayerischen Rundfunks mit Hilfe des Centrums für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMas) analysiert haben. Auffällig ist, dass Verschwörungs-Influencer zunächst scheinbar unpolitische Themen wie Geburt oder Kindererziehung ansprechen, bevor im zweiten Schritt extremistische Botschaften folgen.

Die Szene hat Zulauf und Familien werden gezielt angesprochen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet beispielsweise, "dass verstärkt Aktivitäten wie Gemeinschaftsausflüge oder leichte Wanderungen angeboten werden, die familien- und kindertauglich sind".

"Reichsbürger" versuchen, sich auf allen Ebenen zu entziehen

Obwohl die Szene der "Reichsbürger" und Selbstverwalter zersplittert ist, eint sie das Misstrauen gegenüber dem deutschen Staat und seinen Institutionen. "Deshalb versuchen Reichsbürger, sich auf allen Ebenen zu entziehen", sagt der Politikwissenschaftler Jan Rathje von CeMas, der problematische Ideologien im Online-Bereich beobachtet.

Dazu gehöre inzwischen auch der Versuch der "Reichsbürger", ihre Kinder aus allen staatlichen Systemen herauszuhalten. BR-Reporterinnen haben eine Familie getroffen, die ihr Kind vor dem Staat verheimlicht hat.

Keine Geburtsurkunde

Lena, deren Name zu ihrem Schutz geändert ist, ist per Hausgeburt - ohne medizinische Hilfe einer Hebamme - zur Welt gekommen. Danach haben die Eltern nicht, wie vorgeschrieben, eine Geburtsurkunde ausstellen lassen. Sie hängen einer Ideologie an, die in der "Reichsbürger"-Szene verbreitet ist. Die Mutter glaubt, "wenn man sein Kind anmeldet, verkauft man es."

In ihrer Vorstellung lebt Lena als "freier Mensch", das heißt ohne Kindergarten, Schule und Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt. Das achtjährige Mädchen kann nicht altersgerecht lesen, schreiben und rechnen. Die Mutter sagt: "Wir wollten mal sehen, was für Menschlein rauskommen, wenn sie nicht so sehr von der Gesellschaft geprägt werden."

Eine der mitgliederstärksten "Reichsbürger"-Gruppen

Lenas Eltern sind Anhänger des Königreich Deutschland (KRD), einer der mitgliederstärksten "Reichsbürger"-Gruppen in Deutschland. Auf Anfrage teilt das Bundesamt für Verfassungsschutz mit, Kinder würden mittlerweile in das "System" des KRD hineingeboren. Angaben zum Alter oder zur Gesamtzahl der betroffenen Kinder liegen nicht vor.

Von Lenas Existenz wusste der deutsche Staat fünf Jahre lang nichts, bis sich jemand aus der Nachbarschaft beim Jugendamt gemeldet hat. Das Verfahren wegen Schulpflichtverweigerung läuft noch, sagen die Eltern. Ihnen ist bewusst, dass jederzeit Mitarbeiter des Jugendamts vor der Tür stehen könnten, um Lena in Obhut zu nehmen. Sie würde dann in eine Pflegefamilie oder in ein Heim kommen.

Problem geht weit über verpasste Schulstunden hinaus

Inobhutnahmen erfolgen nur, wenn das Kindeswohl gefährdet ist, erklärt Rüdiger Ernst, Vorsitzender Richter am Berliner Kammergericht. In der Reichsbürger-Szene spiele neben Isolation auch Gehirnwäsche eine Rolle, sagt der Richter. "Wenn Kinder vollständig in einer Parallelwelt erzogen werden, kann das Gericht am Ende des Verfahrens zu dem Ergebnis kommen, dass das Kind schwerwiegend geschädigt wird, wenn es in dieser Familie bleibt, weil es keine Entwicklungschancen hat."

Lena ist nicht das einzige Kind, das in der Parallelwelt der "Reichsbürger" aufwächst. In Thüringen sind mehrere Kinder bekannt, die keine Geburtsurkunde haben, bestätigen der dortige Verfassungsschutz und das Sozialministerium. Auch wissen die Behörden von mehreren Fällen, in denen Kinder nicht zur Schule gehen.

Eine Abfrage bei Thüringer Jugendämtern kommt zu dem Ergebnis, dass diese Kinder besondere Aufmerksamkeit brauchen, da ihre Rechte stark eingeschränkt seien. Sie wüchsen unter Umständen isoliert auf, würden früh indoktriniert, Eltern verweigerten teilweise Arztbesuche, Zahnpflege und Impfungen, schreiben die Ämter. Manche Kinder lebten ohne Krankenversicherung.

Aufwachsen in einer "feindlichen Welt"

Wie viele Kinder ähnlich leben wie Lena, ist unbekannt. Denn die Behörden registrieren nur die Kinder, auf die jemand hingewiesen hat. Wie es den anderen Kindern ergeht, die in der Szene abgeschottet leben, weiß niemand genau. "Es gibt keine Lehrer, die blaue Flecken bemerken würden", sagt der Thüringer Extremismus-Experte Felix Steiner. "Die Kinder wachsen mit dem Gefühl auf, in einer feindlichen Welt zu leben, was eine enorme Belastung darstellt."

Je länger der Konflikt mit dem Staat andauert, desto schwieriger wird die Reintegration von Extremisten in die Gesellschaft. Daniela Marckmann, Leiterin der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus, vergleicht die "Reichsbürger"-Szene mit einer Sekte: "Es ist ein Leben in Widersprüchen. Vernunft wird oft ausgeschaltet."

Ihr Team berät Behörden, bietet Workshops an Schulen an und besucht Extremisten zu Hause. Ziel der Gespräche ist es, Ausstiegswege aufzuzeigen. Soziale Kontakte sind entscheidend für die Rückkehr in die Gesellschaft, betont Marckmann. Besonders problematisch ist es daher, wenn Kindern diese Kontakte fehlen und sie nur das Weltbild der "Reichsbürger" kennen.