Zahlreiche Captagon-Pillen in einem Plastiksack.
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Deutschland europäischer Schwerpunkt Das Milliardengeschäft mit der Droge Captagon

Stand: 08.10.2024 05:03 Uhr

Der hochprofitable Handel mit der Aufputschdroge Captagon wird immer häufiger über Deutschland abgewickelt. Dabei ist Deutschland nicht mehr nur Transitland - die Tabletten werden auch vermehrt hier produziert.

Von Arne Meyer-Fünffinger, BR, Nadja Malak, Ludwig Kendzia, Margherita Bettoni, MDR, René Althammer, RBB, und Ahmed Senyurt, SWR

Die Aufputschdroge Captagon war bis vor wenigen Jahren nur Insidern bei Polizei, Geheimdiensten oder internationalen Forschungsinstituten bekannt. Die kleine Tablette mit dem markanten Doppel-C als Prägung ist inzwischen ein Synonym für eines der profitabelsten Geschäfte im internationalen Drogenhandel geworden: billig in der Produktion, teuer auf der Straße. Denn die Grundstoffe, Amphetamin und Koffein, kosten nur wenige Cents pro Pille.

Begehrt ist und verkauft wird die Tablette vor allem im arabischen Raum. Auf den Straßen von Riad, Jeddah oder Dubai kostet sie zwischen 15 und 20 Dollar. Die Pillen werden tonnenweise in die Region gebracht, der Profit ist enorm. Die Herstellung von hundert Kilogramm Captagon kostet etwa 50.000 Euro, deren Verkauf auf der Straße bringt mehr als acht Millionen.

Deutschland internationale Drehscheibe

Das Geschäft läuft jedoch mittlerweile auch über Deutschland und beschäftigt bundesweit immer mehr Polizeidienststellen. Ein Rechercheteam von BR, MDR, RBB, SWR, der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) und der Mediengruppe Bayern hat zwei Jahre lang weltweit zum Handel mit Captagon und der Rolle von Dealergruppen in Deutschland recherchiert.

Dabei konnte das Team Tausende Seiten vertrauliches Ermittlungsmaterial einsehen und auswerten, mit Dutzenden deutschen, europäischen, amerikanischen und arabischen Sicherheitsexperten sprechen. Im Ergebnis wird deutlich, dass der Handel und die Produktion von Captagon in den kommenden Jahren ein ernsthaftes Problem für Deutschland und Europa werden könnte.

Extrem großes Dunkelfeld vermutet

Lutz Preisler ist Sachgebietsleiter beim Bundeskriminalamt (BKA) für den Bereich synthetische Drogen, zu denen auch Captagon zählt. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem Schmuggel der Droge. Dabei seien "zehn Prozent das, was wir als Hellfeld kennen, der Rest ist Dunkelfeld", so der BKA-Beamte. Das bedeutet: 90 Prozent des Handels der Droge dürften den Ermittlern in Deutschland verborgen bleiben.

Das könnte eine enorme Menge sein: Denn in den vergangenen drei Jahren haben Zoll und Polizei rund 1,2 Tonnen Captagon in Deutschland sichergestellt - das wären die zehn Prozent des Hellfeldes, von denen Preisler spricht. Die Zahl macht deutlich, was offenbar von den syrischen und libanesischen Captagon-Kartellen durch Deutschland als Transitland geschmuggelt wird.

Drogenproduktion auch hierzulande

Doch inzwischen hat sich die Lage weiter verändert: Deutschland ist nicht mehr nur ein Transitland für den Schmuggel, sondern die Tabletten werden auch hier produziert. Im Sommer vergangenen Jahres hob das BKA eine Captagon-Produktion in Regensburg aus. Die Grundstoffe für die Herstellung der Pillen kamen aus den Niederlanden, wie auch die Tablettiermaschine.

Das Geschäft läuft international und ist, wie nun deutlich wird, komplex vernetzt: Nach Recherchen des Teams könnten bisher als lose Gruppen agierende, vorwiegend syrische Dealer in Deutschland sich untereinander nicht nur kennen, sondern auch mit den verschiedenen Geschäften in Verbindung stehen.

Spur führt nach Nordrhein-Westfalen

Die Recherchen von BR, MDR, RBB, SWR, FAZ und Mediengruppe Bayern zeigen, dass das Verfahren um die Produktionsstätte Regensburg mit einem weiteren komplexen Captagon-Fall zusammenhängt. Internen Unterlagen zufolge stießen Ermittler am Tatort Regenburg auf Spuren, die zum bisher größten Captagon-Fund in Deutschland führen.

An Verpackungsmaterial entdeckten sie Fingerabdrücke und DNA, die zu einem inzwischen Angeklagten in einem Captagon-Verfahren in Nordrhein-Westfalen gehören. In diesem Fall hatten Zollfahnder aus Essen 2022 und 2023 im nordrhein-westfälischen Würselen und an den Flughäfen Köln/Bonn und Leipzig insgesamt eine knappe halbe Tonne Captagon sichergestellt.

Noch wenige Ermittlungen zu Netzwerken

Einer der mutmaßlichen Täter hatte seine Spuren in der Produktionsstätte in Regensburg hinterlassen. Unklar ist, was genau er dort gemacht hat. Bisher soll es dazu auch keine weiteren Ermittlungen gegeben haben. Etwas, was bei den Recherchen immer wieder auffällt: Obwohl bundesweit enorme Captagon-Mengen sichergestellt werden, gibt es regionale Ermittlungen und Gerichtsprozesse. Eine Aufklärung der dahintersteckenden Netzwerke findet aber kaum statt.

Antonio Hubbard ist Ex-Agent der amerikanischen Drogenbehörde DEA. 25 Jahre war er unter anderem in Kolumbien, Afghanistan und zuletzt als stellvertretender Operationsleiter für Afrika unterwegs. Hubbard macht sich in Bezug auf Deutschland, Europa und die mögliche Verlagerung der Captagon-Produktion keine Illusionen. "Kein Transitland wird ein Transitland bleiben", sagte er in einem Gespräch mit der ARD, der FAZ und der Mediengruppe Bayern.

Konsum in Deutschland unbekannte Größe

Während hiesige Behörden wie das BKA bisher davon ausgehen, dass es in Deutschland so gut wie keinen Konsum von Captagon gibt, ist Hubbard aufgrund seiner Erfahrung davon überzeugt, dass Kriminelle Teile der geschmuggelten Drogen einbehalten und auf den Markt bringen - etwas, was das BKA bisher so nicht bestätigen will. Bisher gebe es keinen erkennbaren Markt, so BKA-Ermittler Preisler. Doch Hubbard bleibt pessimistisch: "Alle Länder sollten sich über den Aufstieg von Captagon Sorgen machen."

Die Anzeichen, dass die Produktion der Droge sich zunehmend nach Deutschland und Europa verlagern könnte, mehren sich. Dem Rechercheteam von ARD, FAZ und Mediengruppe Bayern ist es gelungen, mit einem Captagonschmuggler in Deutschland zu sprechen. Er berichtet, dass seine Hintermänner in den syrischen und libanesischen Captagon-Kartellen ihm erklärt hätten, von dort solle nur noch das Pulver nach Europa kommen.

Täter über Ländergrenzen hinweg gut organisiert

Die Tabletten sollen hier hergestellt und dann weiter vertrieben werden. Dies wird auch in einem weiteren großen, inzwischen abgeschlossenen Captagonverfahren in Bayern deutlich. Dort skizzierte einer der mutmaßlichen Hintermänner seine Pläne. Dabei sollten entsprechende Maschinen nach Österreich gebracht und alle 20 Tage bis zu einer Tonne Captagon produziert werden.

Allerdings gehen Experten davon aus, dass das fertige Pulver für das Tablettieren der Pillen nicht mehr nur aus Syrien oder dem Libanon, sondern auch aus Laboren in den Niederlanden nach Deutschland kommt. Nach ihren Einschätzungen versuchen die Kartelle so offenbar, sich unabhängiger von Regierungssystemen wie dem des syrischen Assad-Clans zu machen.

Milliardenprofite für Assad und Hisbollah

Das Assad-Regime verdiene an dem Handel bis zu 50 Milliarden Dollar pro Jahr. Auch die libanesische Hisbollah hält bei den Capatagon-Geschäften die Hand auf - Geld, das sich die Kartelle sparen könnten, wenn die Produktion in Länder wie Deutschland verlagert wird.

Inzwischen haben die deutschen Sicherheitsbehörden die offensichtliche Notwendigkeit der bundesweiten Vernetzung von Ermittlungen erkannt. Das BKA bestätigte, dass es vor wenigen Monaten ein Arbeitstreffen gegeben habe. Bei diesem hätten Ermittler vom BKA, von Länderpolizeien und Staatsanwaltschaften an einem Tisch gesessen, um über das Captagonproblem und die Ermittlungen zu sprechen. BKA-Mann Preisler sieht Handlungsbedarf: "Ich glaube, das Captagon-Thema wird uns noch länger beschäftigen."