Strafvollzug Wie Angst Freiheit kostet
Lockerungen beim Strafvollzug helfen Tätern nach der Haft bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Doch wird der Strafvollzug zunehmend rigider gehandhabt, dies auch aus Angst. Das zeigen neue Studien und Recherchen von Kontraste.
"Ich will wieder ein normaler Teil dieser Gesellschaft werden!" Das sagt Christian Twachtmann, er sitzt seit 2017 in der JVA Werl im Sauerland, seit 2021 in der Sicherungsverwahrung. Das heißt: Für ihn gibt es kein Entlassungsdatum.
Seine Zeit im Gefängnis begann mit insgesamt fünf Jahren Haft, am Ende davon kam er in den offenen Vollzug - von dort floh er jedoch. Anschließend überfiel er drei Banken und landete erneut im Gefängnis - diesmal für sieben Jahre. "Unvorbereitet", wie er sagt, wurde er wieder entlassen und überfiel noch einmal die Bank, wegen der er einsaß. Dafür erhielt er sieben Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Für einen Großteil der Strafgefangenen heißt es tatsächlich: Wer einmal kriminell ist, wird auch wieder kriminell. Das geht aus der Rückfallstatistik des Bundesjustizministeriums hervor, die alle drei Jahre verfasst wird. Danach liegt die Rückfallquote für Strafgefangene nach drei Jahren Haft recht stabil bei etwa 46 Prozent. Nach zwölf Jahren liegt diese bei 66 Prozent. Ein Drittel dieser Täter wird wieder zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt.
Offener Vollzug - eigentlich der Regelfall
Als bewährte Methode für eine erfolgreiche Wiedereingliederung gilt der offene Vollzug, bei der die Straftäter zum Beispiel außerhalb der Anstalt in gemeinsamen Unterkünften untergebracht werden, tagsüber einer regulären Arbeit nachgehen und den Kontakt zu ihren Familien halten können. Das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) schreibt in § 10 diese Form der Unterbringung auch als Regelfall vor. Ländergesetze, die seit 2006 anstelle des Bundesgesetzes getreten sind, haben die Regelung meist übernommen oder sehen geschlossenen und offenen Vollzug als gleichrangig an. Nur Bayern, Hessen, Niedersachsen und das Saarland geben gesetzlich dem geschlossenen Vollzug den Vorrang.
Eine aktuelle Vergleichsstudie im Auftrag des niedersächsischen Wissenschaftsministeriums kommt nun zu dem Schluss, dass "Personen aus dem offenen Vollzug signifikant seltener erneut zu einer unbedingten Gefängnisstrafe verurteilt wurden". Mehr offener Vollzug reduziert also die Rückfallquoten. Dass jemand - so wie Christian Twachtmann - im offenen Vollzug rückfällig wird, ist die Ausnahme. Lediglich in einem von 10.000 Fällen komme es zu verspäteter Rückkehr, Fluchtversuch oder Straftaten, so eine bislang unveröffentlichte Studie der Wissenschaftler Frieder Dünkel und Stefan Harrendorf von der Uni Greifswald, die dem ARD-Politikmagazin Kontraste exklusiv vorliegt.
Die große Angst der Justizpolitik
Jedoch hat auch nur einer dieser seltenen Fälle das Potenzial, konsequentere Lockerungen für all die anderen zu verhindern, weiß der ehemalige Gefängnisleiter und Jurist Thomas Galli: "Ich bin letztlich immer auf der sicheren Seite, wenn ich einfach sage, ein Gefangener kriegt keinen Ausgang." Das Einzige, was einen Justizminister den Stuhl kosten könne, sei, "wenn im Strafvollzug irgendetwas Schlimmes passiert". Das sei die "große Angst der Justizpolitik". Inzwischen gilt Galli als prominenter Kritiker des in Deutschland zunehmend rigiden Strafvollzugs.
Die Konsequenz: Die Zahl der Lockerungen nahm in den vergangenen Jahren bundesweit stark ab. Sie sind wesentlicher Teil des offenen oder auch geschlossenen Vollzugs und gelten als Vorbereitung für die Entlassung. So sollen soziale Kontakte außerhalb des Gefängnisses gehalten oder aufgebaut werden, eine Wiedereingliederung und ein straffreies Leben erleichtert werden. Dünkel und Harrendorf zufolge ist allein die Zahl der Langzeitausgänge von 2003 bis 2021 um etwa zwei Drittel zurückgegangen.
"In der Haftanstalt findet eher eine De-Sozialisierung statt", sagt der ehemalige Anstaltsleiter Thomas Galli - wenig Besuchszeit, kaum Kontakte nach draußen. "Die meiste Zeit des Tages sind die Inhaftierten mit anderen Inhaftierten zusammen. Das ist das Gegenteil einer Sozialisierung."
Weniger Haftlockerungen
Entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Resozialisierung sinkt der Anteil derjenigen, die ihre Haftstrafe im offenen Vollzug absitzen. Das geht aus einer Kontraste-Abfrage bei den Justizministerien der Länder hervor. Während 2012 das Verhältnis von offenem zu geschlossenem Vollzug bundesweit noch bei 14,2 Prozent lag, stand dieser 2022 nur noch bei 11,6 Prozent.
Gerade Niedersachsen verzeichnet einen erheblichen Abfall von 16,4 Prozent 2017 auf 10,1 Prozent im vergangenen Jahr. Spitzenreiter bei offenem Vollzug ist Nordrhein-Westfalen mit 28,7 Prozent, Schlusslicht ist Hessen mit 1,6 Prozent.
Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht
Eine baldmöglichste Entlassung, wie es das Bundesverfassungsgericht (BVerG) bei Sicherungsverwahrten vorschreibt, werde durch mangelhafte Resozialisierung unmöglich gemacht, kritisiert der Sicherungsverwahrte Christian Twachtmann. Gemeinsam mit 75 anderen Gefangenen der JVA Werl hat er deshalb Beschwerde auf Freilassung beim BVerG eingelegt, weil Resozialisierungsmaßnahmen nicht umgesetzt werden: "Es gibt ja Recht und Gesetz, und genau daran hapert es ja hier. Das kostet unsere Freiheit."
Zu den Resozialisierungsmaßnahmen gehören auch Therapien. Werden keine passgenauen Therapien angeboten, können Insassen auch nicht erfolgreich behandelt werden. Ohne erfolgreiche Therapie keine Haftlockerung. Und ohne Bewährung in der Haftlockerung gibt es wiederum keine Chance auf Entlassung. Das nordrhein-westfälische Justizministerium räumt Personalmangel in der JVA Werl ein, bestreitet aber auf Nachfrage von Kontraste diese Missstände: "Die gesetzlichen Vorgaben zum Vollzug der Sicherungsverwahrung werden in der JVA uneingeschränkt beachtet."
"Entlassung in keiner Weise vorbereitet"
Der Sicherungsverwahrte Christian Twachtmann hofft zumindest auf einen Teilerfolg. Schon fünfmal hat er vor dem Bundesverfassungsgericht wegen anderer Haftbeschwerden gewonnen. Die Strafrechtsexpertin und Professorin an der FH Dortmund, Christine Graebsch, hat sich mit Twachtmanns Fall befasst. Für seine Flucht und den Rückfall macht sie den Strafvollzug mitverantwortlich, schließlich habe die JVA "bei ihm damals die Entlassung in keiner Weise vorbereitet". Die Konsequenz: "Er ist dann direkt sechs Monate danach schulbuchmäßig, quasi lehrbuchmäßig wieder rückfällig geworden."
Das Grundproblem des Vollzugs, sagt Graebsch im Gespräch mit Kontraste, sei, dass keiner Verantwortung übernehmen wolle, wenn während der Zeit des Vollzugs etwas passiere, aber auch "niemand den Vollzug zur Verantwortung zieht, wenn hinterher was passiert, weil die Entlassung nicht ordentlich vorbereitet wurde". Fehler bei Lockerungen würden immer auffallen und in den Medien aufgegriffen. "Aber der andere Fehler, der sehr viel häufiger ist, nämlich dass Menschen eingesperrt sind, obwohl sie nicht gefährlich sind, das fällt niemandem auf, außer den Betroffenen." Sie hätten auch kaum eine Lobby.
Mehr zu diesem Thema können Sie in der Sendung Kontraste heute um 21:45 Uhr im Ersten sehen oder in der ARD-Mediathek.