Vergewaltigungen in Bielefeld Viele Opfer noch immer nicht informiert?
Im Bielefelder Vergewaltigungsskandal wissen nach Recherchen von Kontraste und dem "Kölner Stadt-Anzeiger" wohl noch immer viele Frauen nicht, dass sie Opfer wurden. Das betrifft Frauen, die der Arzt außerhalb der Klinik missbraucht haben soll.
Sonja M. und Jasmin G. (Namen geändert) waren Ende 2019 Patientinnen im Evangelischen Bethel-Klinikum in Bielefeld, untergebracht in einem Zimmer. Was sie erst in diesem Jahr, also mehr als zwei Jahre später erfahren haben, erschüttert sie zutiefst: Sie beide wurden von einem Assistenzarzt mehrfach betäubt und vergewaltigt. Damit sind sie Betroffene einer der größten Vergewaltigungsserien Deutschlands, die die Justiz und auch die Öffentlichkeit seit mehr als zwei Jahren beschäftigt. "Es macht extrem wütend, dass die nicht gehandelt haben", sagt Sonja M. gegenüber dem ARD-Politikmagazin Kontraste.
Staatsanwaltschaft Bielefeld wollte Opfer nicht informieren
Assistenzarzt Philipp G. konnte zwischen Februar 2019 und April 2020 rund 30 Patientinnen im Klinikum Bethel in Bielefeld betäuben und vergewaltigen. Seine Taten filmte er mit dem Handy. Erst als die Ermittler in seiner Wohnung eine Festplatte mit Videos und eine Liste mit Frauennamen fanden, wurde Philipp G. im Herbst 2020 festgenommen. Als er sich kurze Zeit später in der Untersuchungshaft das Leben nahm, stellte die Staatsanwaltschaft Bielefeld die Ermittlungen ein und entschied, viele betroffene Frauen nicht über ihre Vergewaltigung zu informieren.
Steckte Täter Opfer mit gefährlicher Geschlechtskrankheit an?
Und das, obwohl im Obduktionsbericht stand: G. hatte Geschlechtskrankheiten, darunter auch die so genannte "Mycoplasma genitalium". Diese Krankheit steht im Verdacht, unbehandelt Frühgeburten und Unfruchtbarkeit hervorrufen zu können. Das empört die Opfer bis heute: "Ich kreide das der Staatsanwaltschaft Bielefeld an, weil wenn sie mich früher informiert hätten, dann hätte ich diese ganzen Schmerzen fast zwei Jahre nicht gehabt", sagt Jasmin K. zu Kontraste.
Sie leidet unter denselben Geschlechtskrankheiten, die nach der Obduktion auch bei Täter Philipp G. festgestellt wurden. Sie hat mehrere Zysten an der Gebärmutter, die ihr vielleicht komplett entfernt werden muss. Dass sie nun informiert wurde, verdankt sie auch dem ehemaligen NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU). Denn der entschied, den Fall wieder aufzumachen und an die Staatsanwaltschaft Duisburg zu geben.
Justizminister: "Betroffene nicht zu informieren, war falsch"
Ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. "Die Entscheidung, die Betroffenen nicht zu informieren, war von Anfang an falsch. Und als sich dann auch noch die Geschlechtskrankheit herausstellte, war sie sogar evident rechtswidrig. Die Betroffenen hatten ein Anrecht darauf, informiert zu werden", sagt Biesenbach im Exklusiv-Interview mit Kontraste. Zuvor hatte nach einer Beschwerde der Anwälte der Betroffenen auch die übergeordnete Generalstaatsanwaltschaft Hamm entschieden, die Ermittlungen eingestellt zu lassen.
"Absurde Argumente der Generalstaatsanwältin"
Peter Biesenbach und sein Ministerium schritten als oberster Dienstherr ein. Es sei der Eindruck entstanden, dass die Generalstaatsanwältin sich möglicherweise zu frühzeitig auf einen Standpunkt festgelegt hatte, so Biesenbach. "Und dann sind Argumente gekommen, die aus der Sicht der Strafrechtsabteilung absurd waren. Und so entstand der Verdacht, dass möglicherweise nicht alle Ermittlungsansätze und auch nicht alle bekannten Tatsachen objektiv so gegeneinander abgewogen wurden", sagt Biesenbach.
Um die Objektivität der Staatsanwaltschaft zu wahren, habe er dann den Fall Ende September 2021 nach Duisburg gegeben. Ermittelt wird auch gegen Verantwortliche der Klinik. Dazu teilte die Bethel-Klinik auf Kontraste-Anfrage mit, dass man seit Bekanntwerden des Verfahrens vollumfänglich mit den Behörden kooperiere. Oberste Priorität hätte die Hilfe für die Opfer, dafür habe man unter anderem einen Unterstützungsfonds eingerichtet.
29 Frauen über Vergewaltigung in Klinik informiert
Die nun ermittelnde Staatsanwaltschaft Duisburg bestätigt gegenüber Kontraste, inzwischen seien alle der 29 Frauen informiert worden, die zum Teil mehrmals im Klinikum Bethel durch Philipp G. unter Narkose gesetzt und vergewaltigt wurden. Doch damit sind möglicherweise noch immer nicht alle Frauen, die Philipp G. sexuell missbraucht hat, informiert. Denn er soll auch in seinem privaten Umfeld ähnlich vorgegangen sein.
Nach internen Vermerken der Ermittler, die Kontraste und dem "Kölner Stadt-Anzeiger" vorliegen, weisen entschlüsselte Videodateien des Täters darauf hin, dass er bereits seit dem Jahr 2014 Frauen sedierte, um sexuelle Handlungen an ihnen vorzunehmen. Die früher ermittelnden Behörden haben laut den Akten Dateien mit Personaldokumenten von Frauen, Fotos und Videos von sexuellen Nötigungen gefunden.
Zahl der Opfer im dreistelligen Bereich?
Die Zahl der Opfer zwischen 2014 und 2019 wird in den internen Vermerken im dreistelligen Bereich vermutet; der Täter soll eine Liste seit dem Jahr 2013 mit 80 unterschiedlichen Frauennamen geführt haben. Die Dateien und Namen lagen bereits der Staatsanwaltschaft Bielefeld vor, doch offenbar werden diese erst jetzt umfassend ausgewertet, seit die Staatsanwaltschaft Duisburg ermittelt - also seit etwa einem Jahr.
Auf die Frage zum aktuellen Stand der Ermittlungen antwortete die Staatsanwaltschaft Duisburg: "Die Prüfung, ob es auch außerhalb des Klinikums zu Straftaten des Verstorbenen gekommen ist, dauert noch an. Damit ist derzeit noch unklar, ob und ggf. wie viele weitere möglicherweise Geschädigte/Opfer es gibt." Es liegt also nahe, dass es noch immer zahlreiche Opfer des Serienvergewaltigers gibt, die nicht wissen, dass sie betroffen sind.