Abschiebung von Jesiden Gebrochenes Versprechen?
Die Bundesregierung hatte Abschiebungen von Jesiden in den Irak noch im Frühjahr als "unzumutbar" bezeichnet. Doch genau das passiert nach Recherchen des ARD-Magazins Monitor derzeit immer häufiger.
Unterthingau im Allgäu, Ende November. In der Flüchtlingsunterkunft am Rand des Dorfes macht Laila Khodaydaa gerade Frühstück, als Polizisten früh am Morgen in die Wohnung der Familie eindringen und ihr den Abschiebebescheid übergeben.
Eine Stunde hat sie Zeit, die Sachen zu packen. Dann wird sie zusammen mit ihrem Mann und zwei Kindern zurück in den Irak abgeschoben. Zurück in das Land, aus dem die jesidische Familie vor der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) geflüchtet war. 2019 sind sie nach Deutschland gekommen.
Nur die beiden anderen Töchter, Bascal und Jmana, Anfang 20, dürfen vorerst bleiben. Jmana erinnert sich: "Wir konnten uns kaum verabschieden. Man hat mich nicht zu ihnen gelassen. Ich war so aufgelöst, dass ich einen Nervenzusammenbruch bekommen habe und man mich ins Krankenhaus gebracht hat."
Opfer des IS-Terrors
Familie Kheiry Khodaydaa gehört zur jesidischen Minderheit im Irak. 2014 tötete die IS-Terrormiliz im Nordirak schätzungsweise 5.000 Jesiden. Tausende Frauen und Kinder wurden verschleppt, versklavt, vergewaltigt. Auch Familie Khodaydaa floh damals vor dem IS in die Berge, musste immer wieder ihr Dorf verlassen, um zu überleben.
In Bayern fanden sie schließlich eine neue Heimat. Bascal und Jmana lernten Deutsch und holten ihren Schulabschluss nach. Jetzt machen beide eine Ausbildung zur Pflegehelferin und betreuen Senioren in einem Wohnheim des Roten Kreuzes. Einen sicheren Aufenthaltsstaus haben sie nicht, nur eine Duldung. Das bedeutet, auch für sie bleibt die Angst, abgeschoben zu werden.
Völkermord anerkannt
Dabei hatte erst im Januar 2023 der Deutsche Bundestag die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord anerkannt. Ein Meilenstein und zugleich ein Signal für die Betroffenen, dass die erlittenen Grausamkeiten und ihr Schutzbedürfnis in Deutschland anerkannt werden. Alle Mitglieder und Parteien stimmten dem Beschluss einvernehmlich zu.
Im März erklärte die Bundesregierung zudem in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage: "Für jesidische Religionszugehörige aus dem Irak (…) ist es - ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren."
Dass nun dennoch vermehrt Jesidinnen und Jesiden in den Irak abgeschoben werden, hält die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal für verantwortungslos: "Ein Bekenntnis verlangt nach Konsequenzen. Und die politische Folge kann nicht Abschiebung heißen."
Paradigmenwechsel
Hintergrund für die vermehrten Abschiebungen ist offenbar eine im Mai dieses Jahres vereinbarte engere Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem Irak im Bereich Migration. Sie soll es vereinfachen, Asylsuchende aus dem Irak zurückzuführen.
Noch sind die Zahlen nicht sehr hoch. Doch es zeichnet sich ein Trend ab. Bis Ende Oktober 2023 wurden 164 Personen in den Irak abgeschoben, 2022 waren es noch insgesamt 77, teilt das Bundesinnenministerium auf Monitor-Nachfrage mit.
Wie viele Jesidinnen und Jesiden sich unter den Abgeschobenen befinden, wird nach Monitor-Recherchen allerdings nicht erfasst. Zuständig für die Abschiebungen seien die Bundesländer, so das Bundesinnenministerium. Diese orientierten sich an den Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das Bundesamt prüfe Asylanträge sorgfältig und entscheide immer im Einzelfall.
Angst vor der Abschiebung
Wie das im Einzelfall jedoch aussehen kann, zeigt sich bei Alia Hassan aus Mülheim an der Ruhr. Die 25-Jährige floh 2019 mit ihrer Familie nach Deutschland. Mittlerweile spricht sie fast fließend Deutsch, holt ihr Abitur am Abendgymnasium nach und träumt davon, Medizin zu studieren. Nebenbei arbeitet sie in einem Eiscafé.
Doch auch sie erhielt vor Kurzem die Aufforderung, Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Ihre beiden Schwestern dürfen dagegen bleiben. "Als ich den Brief bekommen habe, konnte ich das gar nicht glauben. Ich war sehr emotional und hatte große Angst."
In ihrem Bescheid schreibt das BAMF: "Der Antragstellerin drohen weder Folter noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung."
Schutz der Minderheiten nicht garantiert
Droht ihr im Irak also keine Gefahr mehr? Erstaunlich ist: Das BAMF bezieht sich bei seinen Entscheidungen nach Angaben des Bundesinnenministeriums insbesondere auf die Lageeinschätzungen des Auswärtigen Amtes zum Irak.
Monitor liegt die aktuell gültige Lageeinschätzung vom November 2022 vor. Darin heißt es, dass religiöse Minderheiten im Zentralirak unter weitreichender faktischer Diskriminierung litten. "Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen."
Auch neun Jahre nach den IS-Grausamkeiten können Jesidinnen und Jesiden nicht in ihre Heimatregion im Irak zurückkehren, bestätigt auch Professor Jan Kizilhan von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg: "Dort kämpfen verschiedene Rebellenorganisationen gegen die irakische Regierung, gegen die Kurden oder untereinander. Es kann lebensgefährlich sein, dorthin zu gehen."
Versagen der Behörden
Kritik an der Bundesregierung kommt nun sogar aus den eigenen Reihen. Max Lucks, Bundestagsabgeordneter und Grünen-Obmann im Ausschuss für Menschenrechte, sieht in der Abschiebung von Jesidinnen und Jesiden ein gebrochenes Versprechen der Bundesregierung und auch ein Versagen der Behörden: "Wir schieben diese Leute dorthin zurück, wo sie nicht sicher sind. Das ist aus meiner Sicht ein moralischer Bankrott für unser Land."
Er wirft der Bundesregierung vor, aufgrund einer verschärften Asylpolitik ihre eigenen Versprechen zu brechen, um die Zahlen der Abschiebungen nach oben zu treiben.
Doch ein kollektiver Schutz für Jesidinnen und Jesiden ist in Deutschland nicht vorgesehen. Nach Schätzungen von Pro Asyl sind daher 5.000 bis 10.000 von Abschiebung in den Irak bedroht - in das Land ihres kollektiven Traumas.
Alia Hassan aus Mühlheim an der Ruhr klagt nun gegen ihren Abschiebebescheid. Sie hoffe, bei ihrer Familie und in ihrer neuen Heimat bleiben zu dürfen, sagt sie.
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