Terrorverfahren in Reichsbürgerszene Zwischen Gewalt und Wahnsinn
Vor einem Jahr gingen Ermittler bundesweit gegen eine mutmaßliche terroristische Vereinigung von Reichsbürgern vor. Nun sollen Anklagen erfolgen. Recherchen von WDR, NDR und SZ geben Einblicke in eines der komplexesten Terrorverfahren der Nachkriegsgeschichte.
Es ist der Morgen des 7. Dezember 2022, als vermummte Spezialkräfte der Polizei ein Haus im Frankfurter Westend stürmen und kurz darauf einen Mann in Tweedsakko und mit graumeliertem Haar in Handschellen herausführen: Heinrich XIII. Prinz Reuß, 72 Jahre alt, Unternehmer, und nach Ansicht des Generalbundesanwalts Mitbegründer einer terroristischen Vereinigung. Er und seine Unterstützer sollen auf einen anderen Staat hingearbeitet haben.
Seither sitzt der Mann, der als "Rädelsführer" gilt und zu den Vorwürfen schweigt, in Haft. Genau wie 26 weitere Beschuldigte.
Anklagen stehen bevor
Gegen diese 27 soll jetzt zeitnah Anklage erhoben werden - wegen der Gründung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Ermittelt wird auch wegen hochverräterischen Unternehmens gegen den Bund. Insgesamt 69 Personen gelten in dem Verfahrenskomplex derzeit als Beschuldigte.
Mehrere Oberlandesgerichte, in Frankfurt am Main, München und Stuttgart, und wohl viele weitere Gerichte bundesweit werden die Vorwürfe verhandeln. Die Hauptbeschuldigten sollen durch den Generalbundesanwalt angeklagt werden, die Verfahren der mutmaßlichen Unterstützer werden an Generalstaatsanwaltschaften in den Bundesländern abgegeben - ein vom Umfang her bislang wohl beispielloses Verfahren. Die Ermittlungsakten sind mehr als 425.000 Seiten stark.
Welt des Wahns
Gemeinsame Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" geben Einblick in eine Welt, in der Ermittler auf viele konkrete Vorbereitungen trafen - und auf großen Wahnsinn, der sich aus verschiedenen weltweit kursierenden Verschwörungsmythen und Reichsbürger-Überzeugungen speiste.
Schon die Rekrutierung geeigneter Kandidaten, die in den engeren Kreis des Prinzen aufgenommen wurden, hatte offenbar übersinnliche Anteile: Reuß umgab sich mit einem Seher und einer Astrologin, die auch weitere Personen, die sie zuvor jahrelang astrologisch beraten hatte, zu der Gruppe herangeführt hatte - so etwa auch die ehemalige Bundestagsabgeordnete der AfD, Birgit Malsack-Winkemann und einen Spitzenkoch. Andere Kandidaten sollen eine astrologische Überprüfung hingegen nicht überstanden haben.
Angebliche Befreiung von Kindern aus Erdtunneln
Eine erste Überprüfung soll ein Mann namens Marco van H. bestanden haben, der für die mutmaßliche terroristische Vereinigung nach Ansicht der Ermittler eine zentrale Rolle gespielt haben soll. Am 27. Mai 2022 soll der Mann aus Pforzheim ins thüringische Bad Lobenstein gekommen sein und sich im Jagdschloss Waidmannsheil dem Schattenkabinett des Prinzen vorgestellt haben.
Das ist jener "Rat", der nach einem Umsturz die Macht in Deutschland übernehmen sollte, mit Prinz Reuß als Staatsoberhaupt. Dem "Rat" soll er nach Erkenntnissen der Ermittler vorgetragen haben, dass er für die sogenannte "Allianz" Kinder aus unterirdischen Erdtunneln befreit habe.
Weltweit tätige "Geheimarmee"
Bei der "Allianz" handelte es sich nach Überzeugung einiger Beschuldigter um eine angeblich weltweit agierende Geheimarmee, zu der angeblich sowohl irdische als auch überirdische Kämpfer zählen, die eine globale Machtübernahme vorbereiteten. Die Vorstellungen, die mit der "Allianz" verbunden waren, waren nach Ansicht der Ermittler zutiefst staatsfeindlich und antidemokratisch geprägt.
Für die Gruppe spielte diese angebliche Geheimorganisation wohl eine entscheidende Rolle: Jener Marco van H., so berichtet es nach Informationen von WDR, NDR und SZ etwa die Ex-AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann in ihrer umfangreichen, mehrtägigen Aussage gegenüber Ermittlern, hätte bei der "Allianz" dafür sorgen sollen, dass die Gruppe Reuß nach einem Umsturz den Prinzen und seine künftigen Minister als Übergangsregierung akzeptiere. Weder die Anwälte von Marco van H. noch von Malsack-Winkemann haben auf Anfrage geantwortet.
Beschuldigte bestreiten Vorwürfe
Die frühere Berliner Richterin Birgit Malsack-Winkemann, aber auch andere Beschuldigte bestreiten die terroristische Zielsetzung der Gruppe, die die Bundesanwaltschaft ihnen vorwirft: auch, dass sie selbst gewaltsame Handlungen hätten vornehmen und die deutsche Regierung hätten putschen wollen. Dies, argumentiert die Ex-Abgeordnete, hätte die "Allianz" übernehmen sollen. Die Gruppe selbst habe zwar von Militärtribunalen und einem weltweiten geplanten Umsturz der "Allianz" gewusst und, etwa in bestimmten Telegram-Gruppen, auf angebliche Vorzeichen gewartet. Sie hätten jedoch nicht selbst gewaltsam putschen wollen.
So stellt es auch der Anwalt des noch immer inhaftierten Prinzen Reuß dar, der sich auf Anfrage gegenüber WDR, NDR und SZ erstmals zu den Vorwürfen äußerte: Es werde stets davon gesprochen, dass man "nach dem Eingreifen der Allianz tätig werden solle. Da es die 'Allianz' nicht gab, wäre hier schlechterdings nichts passiert". Das sollen die Ermittler anders sehen.
Aufbau von "Heimatschutzkompanien"
Denn die nehmen die Bemühungen der Gruppe trotz dieser vielfach wahnhaft wirkenden Ideologien äußerst ernst, zumal Teile der Gruppe an paramilitärisch organisierten Kommandostrukturen gearbeitet hätten. So fanden Polizisten bei Durchsuchungen bei früheren und einem aktiven Bundeswehrsoldaten etwa Powerpointpräsentationen, Zeichnungen und Dokumente über Planungen für den Aufbau von Heimatschutzkompanien.
In einem Dokument wird deren Zweck genau beschrieben: Sie sollten neben der "aktiven Überwachung des urbanen Raumes" auch verantwortlich sein für die "Neutralisierung von konterrevolutionären Kräften aus dem linken und dem islamischen Spektrum" sowie für die "Unterbindung von Partisanenaktivitäten".
Einer der wesentlichen Beteiligten soll ein Bundeswehrsoldat gewesen sein, der bis zu seiner Verhaftung im Kommando Spezialkräfte (KSK) in Calw aktiv tätig war. Er soll schon konkrete Pläne entwickelt haben, wie die Kompanien genau aufgebaut sein würden und gemeinsam mit anderen die Anschaffung von Funkgeräten, Waffen, Munition sowie Fahrzeugen geplant haben.
Als die Ermittler vor einem Jahr das Haus des Soldaten stürmten, fanden sie bei ihm nicht nur Plastikhandfesseln und 22 Sturmhauben, sondern auch einen Stempel mit der Aufschrift "Heimatschutzkompanie 161, Christian-Ritter-von-Popp-Straße 25, 95448 Bayreuth". In Wirklichkeit ist dies die Anschrift der Bundespolizeiabteilung Bayreuth. Die Anwälte des Beschuldigten reagierten nicht auf Anfrage.
Was den Ermittlern besonders auffiel: Immer wieder versuchten die Beschuldigten, Soldaten und Polizisten für ihre Pläne zu gewinnen. Nur vereinzelt meldeten die Angesprochenen dies offenbar an ihre Dienststellen oder andere Sicherheitsbehörden.
Kontakte in die organisierte rechtsextreme Szene
Nicht nur planten die Beschuldigten eine bundesweite Organisation, auch hatten sie erfahrene und sehr gut ausgebildete Männer in ihren Reihen: darunter den ehemaligen KSK-Soldaten Peter W. Bereits 2016 hatten Ermittler den Mann in Thüringen ausgiebig überwacht, nachdem er Mitglieder der rechtsextremen "Europäischen Aktion", die in ihren Schriften unter anderem für revolutionären Widerstand durch kleine Zellen warb, bei einem Waldbiwak ausgebildet haben soll. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
W. soll einer der wichtigsten Männer beim Ausbau des "militärischen Arms" gewesen sein. Er soll sich gegenüber einem möglichen Mitstreiter gebrüstet haben, man wolle mit 30 Leuten den Bundestag stürmen. Auf seinem Handy fanden sich Fotos von Bundestagsliegenschaften, die er mindestens zweimal mit Gleichgesinnten besucht haben soll. Die Ermittler vermuten, er habe die Liegenschaft ausspähen wollen.
Später behauptete Peter W., der Auftrag zur Vorbereitung eines Sturms auf den Bundestag sei von Prinz Reuß gekommen. Dessen Anwalt teilt auf Anfrage von WDR, NDR und SZ mit: Wenn der Prinz "in irgendeiner Form, wie auch immer, an Plänen zur Erstürmung des Bundestags beteiligt gewesen wäre", so der Anwalt, "bestünde Anlass, ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen". Der Anwalt von Peter W. antwortete nicht auf eine Anfrage.
Wer sollte den Reichstag stürmen?
Der mutmaßliche Plan hat dadurch besondere Brisanz, dass Peter W.s Mitbeschuldigte - Birgit Malsack-Winkemann - als AfD-Abgeordnete mit ihrem Hausausweis nicht nur den Bundestag ohne Kontrolle betreten, sondern auch Gäste mitbringen konnte - auch noch nach ihrem Ausscheiden im Herbst 2021. Die Ermittler konnten auf den Handys der Besucher Fotos und Videos vom 1. und 18. August 2021 sichern. Darauf sind Hinweisschilder, Treppenhäuser, unterirdische Verbindungsgänge und Parkplätze in der Tiefgarage zu sehen.
Malsack-Winkemann gab an, dies sei eine normale touristische Führung gewesen. Drei der Teilnehmenden habe sie zuvor nicht gekannt. Zudem gab sie an, erst etwa ein halbes Jahr später Teil des "Rates" um Reuß geworden zu sein. Sich an Plänen zu einem Bundestagssturm aktiv beteiligt zu haben, bestreitet sie in der Vernehmung vehement.
Es ist auch nicht klar, ob und wie ernsthaft der Reichstagssturm im Jahr 2022 weiter verfolgt wurde. Mehrere Beschuldigte sagten später aus, der Plan sei fallen gelassen worden - beziehungsweise hätte auch diese Aufgabe die "Allianz" erledigen sollen.
Ein beschuldigter Reservist sagte jedoch dem Militärischen Abschirmdienst: Der Ex-Soldat und mutmaßliche Militärchef der Gruppe, Rüdiger von Pescatore, habe noch im Juni oder Juli 2022 auf einem Treffen davon gesprochen, dass er direkt den Reichstag stürmen wolle. Ein Mitstreiter habe ihn daraufhin zurückhalten müssen: Es sei noch zu früh dafür. Auch der Anwalt von Rüdiger von Pescatore antwortete nicht auf Anfrage.
Bis heute nehmen die Ermittler die Gruppe und ihre Pläne und Strukturen so ernst, dass sie inzwischen auch mehrfach auf einem Militärgelände des KSK in Calw mit Baggern nach versteckten Erddepots gruben. Der Verdacht: Dort könnten noch Waffen und Munition aus alten Zeiten lagern, die ein Beschuldigter dort versteckt haben könnte.
Mammutaufgabe für die Justiz
Für die Prozesse gegen das Reichsbürger-Netzwerk, die wohl im Frühsommer 2024 beginnen könnten, gilt eine Verfahrensdauer von mehreren Jahren als wahrscheinlich.
Große Hoffnung setzen die Ankläger dabei auf jene Beweismittel, die deutlich machen, dass es sich durchaus um ein strukturiertes Netzwerk, mitunter sogar mit Hierarchien und genau definierten Funktionen, gehandelt haben soll. Als Beleg dafür gelten insbesondere die sogenannten "Verschwiegenheitserklärungen", die zahlreiche Beschuldigte unterschrieben hatten. Mehr als 130 davon wurden bei verschiedenen Durchsuchungen gefunden.