Ein 155mm-Geschütz M777 aus US-amerikanischer Produktion in der südukrainischen Provinz Cherson (Januar 2023).
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Unterstützung der Ukraine US-Streumunition aus Deutschland geliefert?

Stand: 25.07.2024 17:13 Uhr

Seit 2023 liefern die USA Streumunition an die Ukraine. Die UN ächten deren Einsatz - auch Deutschland. NDR-Recherchen zeigen, dass auf dem US-Stützpunkt Miesau Streumunition lagert und in die Ukraine transportiert wird.

Von Lisa Maria Hagen, Mariam Noori und John Goetz, NDR

Im Juni, nahe Marjinka, rund zehn Kilometer vor den russischen Truppen. Ein Soldat der ukrainischen 33. Brigade führt in ein Versteck. Dort lagern Dutzende graue Bomben. Stolz erklärt der Soldat den Zeitzünder. Die Geschosse werden mit einer Haubitze hinter die feindlichen Linien gefeuert. Wenn sie in der Luft sind, öffnet sich die äußere Kapsel und setzt Dutzende kleine Bomblets frei, die sogenannte Submunition.

Diese streut über eine große Fläche von bis zu 1.000 Quadratmetern. "Der Feind hat große Angst vor der Streumunition", erklärt der Soldat Vasyl. "Die Russen kamen zu uns, in unser Haus, auf unsere Erde. Und beschießen uns mit allem, was geht", sagt der Soldat Mykhailo, der die Haubitze bedient, "Warum sollten wir nicht auch zurückschlagen dürfen?"

Was sie hier abfeuern, ist Streumunition vom US-Typ "M864" und "M483A1". Geliefert haben sie die USA, doch nach Recherchen des ARD-Magazins Panorama und STRG_F kommen diese möglicherweise aus US-Depots in Deutschland und wurden über deutsche Autobahnen transportiert. 

Unberechenbare Folgen für Zivilisten

Streumunition ist wegen ihrer unberechenbaren und grausamen Folgen für Zivilisten geächtet. Die Submunition trifft wahllos, oft auch Zivilisten. Besonders die Spätfolgen sind gefährlich. Bis heute liegen Millionen nicht explodierte Munition aus vergangenen Kriegen in und auf der Erde und kann bei Kontakt töten. Laut Handicap International wurden von den 1960-Jahren bis 2022 knapp 25.000 zivile Opfer von Streumunition registriert. Die Dunkelziffer liege mehr als doppelt so hoch.

2008 hatte der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier die von 112 Staaten ratifizierte Oslo-Konvention als "Meilenstein" bezeichnet. Deutschland hatte sich aktiv für die Ächtung von Streumunition eingesetzt und 2020 laut Auswärtigem Amt 48,8 Millionen Euro für Opferhilfe und Minenräumungen bereitgestellt. Das Auswärtige Amt schreibt dazu auf seiner Website: "Deutschland wird dabei als einer der weltweit größten und verlässlichsten Geldgeber seiner Rolle bei der Umsetzung des Oslo-Übereinkommens gerecht." 

Doch diese Haltung schien sich unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges zu ändern. Weil die Artillerie-Geschosse knapp wurden und um zahlenmäßige Unterlegenheit auszugleichen, forderte die Ukraine von seinen internationalen Partnern Streumunition. Nach einigem Zögern lieferten die USA. Dabei wird auch immer wieder auf den massiven Einsatz russischer Streumunition im Ukraine-Krieg verwiesen.

Die Ukraine sichert den USA zu, die Streumunition verantwortungsvoll einzusetzen, erklärt ein Sprecher der ukrainischen Streitkräfte gegenüber Panorama und STRG_F auf Anfrage: "Anders als die Russische Föderation setzen die ukrainischen Streitkräfte Streumunition innerhalb der international anerkannten Grenzen der Ukraine, unter strikter Einhaltung des humanitären Völkerrechts und ausschließlich zur Zerstörung russischer militärischer Ziele ein, die außerhalb dicht besiedelter Gebiete liegen, um Schaden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden."

Abkommen nicht unterzeichnet

Ohnehin haben die USA, Russland und die Ukraine das Oslo-Abkommen nie unterzeichnet. Deutschland hingegen schon.

Ein Teil der Streumunition, die die USA an die Ukraine seit 2023 liefern, lag zuvor offenbar im rheinland-pfälzischen Miesau. Ein Sprecher der US-Armee bestätigt auf Anfrage von Panorama und STRG_F, dass Munition des Typs "M864" und "M483A1" "derzeit sicher in Miesau gelagert" wird. Und er bestätigt auch, dass die Munition sicher und eskortiert von dort nach Polen transportiert wird, um von dort in die Ukraine geliefert zu werden.

Das könnte ein Verstoß gegen eben jenes Oslo-Übereinkommen und das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz sein. Dort heißt es: "Jeder Vertragsstaat (...) bemüht sich nach besten Kräften, Staaten, die nicht Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind, vom Einsatz von Streumunition abzubringen".

Oslo-Abkommen bleibt vage

Ein solches Bemühen seitens Deutschlands gegenüber den USA in Zusammenhang mit den Ukraine-Lieferungen ist nicht bekannt. Tatsächlich bleibt das Oslo-Abkommen auch vage, wie so ein Bemühen aussehen könnte. Allerdings: Seine Verpflichtungen aus dem Oslo-Übereinkommen setzte Deutschland 2009 im Kriegswaffenkontrollgesetz um. Demzufolge ist es verboten, Streumunition "einzuführen, auszuführen, durch das Bundesgebiet durchzuführen".

Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat im August 2023 prüfen lassen, was die US-Lieferungen an die Ukraine für Deutschland bedeuten und kommt zu dem Schluss, dass "mit Blick auf den Transport von Streumunition über deutsches Territorium (Transit)" ein Verbot im Kriegswaffenkontrollgesetz relevant sei. 

Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes wendete damals noch ein, dass es fraglich sei, ob die USA deutsche Behörden über den Transport aufklären würden. Eine völkerrechtliche Verpflichtung dazu haben die USA nicht, weil sie - wie auch die Ukraine und Russland - das Oslo-Abkommen nicht unterschrieben haben.

"Keine eigenen Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung"

Tatsächlich argumentiert die Bundesregierung mit Nichtwissen: Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärt auf Nachfrage, keine Kenntnis von Lagerung und Transport der US-Streumunition zu haben: "Also erstens weiß ich das nicht, woher geliefert wird, und zweitens würde ich es auch nicht kommentieren." Auch auf eine entsprechende Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (BSW) schreibt die Bundesregierung: "Der Bundesregierung liegen keine eigenen Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung vor."

An dieser Darstellung gibt es jetzt allerdings Zweifel: Ein Sprecher der US-Armee für Europa und Afrika bestätigt gegenüber Panorama und STRG_F schriftlich nicht nur die Lagerung von Streumunition in Miesau und deren Lieferung an die Ukraine, sondern schreibt auch: "Die Movement Control Teams der US-Armee koordinieren alle Munitionsbewegungen mit dem Deutschen National Movement Control Center".

Auf Nachfrage, ob das auch für die Streumunition M864 und M483A1 gilt und diese ebenfalls mit dem National Movement Control Center (NMCC) koordiniert wird, antwortete der Sprecher: "All munitions means all munitions". Das NMCC ist Teil des Logistikzentrums der Bundeswehr in Wilhelmshaven.  

Unklar ist, ob die Bundeswehr dadurch Kenntnis über Streumunitionstransporte hat. Das Verteidigungsministerium erklärt, man erhalte nur eine "eher grobe Klassifizierung - ein Rückschluss auf spezifische Munitionssorten kann daraus nicht gezogen werden", und weiter: "Es ist also richtig, dass die US-Streitkräfte alle Munitionstransporte durch/nach Deutschland anmelden, die Bundeswehr aber keine Kenntnisse über einzelne Munitionssorten hat." Dagegen antwortet der Sprecher der US Armee auf die Frage, ob das NMCC mitgeteilt bekommen, welche spezifische Munition transportiert wird, das NMCC erhalte "eine Dokumentation des Inhalts der Ladungen".  

Sevim Dagdelen, außenpolitische Sprecherin der BSW-Gruppe im Bundestag (Bündnis Sahra Wagenknecht) und Obfrau im Auswärtigen Ausschuss, erklärt dazu: "Die Bundesregierung kommt ihrer Verpflichtung gemäß des Oslo-Übereinkommens zur Ächtung von Streumunition in Deutschland ganz offensichtlich nicht nach."

Menschenrechtsorganisationen besorgt

Die Cluster Munition Coalition, ein internationales Bündnis von Menschenrechtsorganisationen, Vereinigungen und Initiativen gegen Streumunition, erklärt auf Anfrage, die Transporte könnten als Verstoß gegen die Konvention interpretiert werden: "Die Cluster Munition Coalition hofft aufrichtig, dass Deutschland als überzeugter Unterstützer des des Oslo-Abkommens den Transit von US-Lagerbeständen durch sein Hoheitsgebiet nicht zulassen wird", man erwarte von Deutschland, dass "es seine Verpflichtungen aus der Konvention gemäß diesen Erklärungen einhält."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet "Panorama" im Ersten am 25. Juli 2024 um 21:45 Uhr.