Ein junger Migrant mit einem Rucksack steht auf einem S-Bahn-Gleis in Berlin an der S-Bahnstation Schöneberg. (Archiv, Foto: 2016)

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete Fehlende Betreuung durch die Behörden

Stand: 27.08.2024 11:00 Uhr

Deutschland ist rechtlich verpflichtet, minderjährige Geflüchtete ohne Begleitung nach den gleichen Standards zu behandeln wie deutsche Kinder und Jugendliche. Die Realität sieht oft anders aus, wie Recherchen von Panorama 3 zeigen.

Von Nadja Mitzkat und Lea Struckmeier, NDR

Arshedkhan Meerazam ist 16 Jahre alt, als er vor zwei Jahren in Deutschland ankommt. Nachdem die Taliban in Afghanistan an die Macht gekommen waren, hatte sein Vater ihn gedrängt, das Land zu verlassen - allein.

Er gelangt schließlich nach Hamburg und wird hier nach drei Tagen auf der Straße von der Polizei aufgelesen. "Gott sei Dank haben sie mich in eine Unterkunft gebracht", erinnert er sich. Er wird vorübergehend vom Jugendamt Hamburg in Obhut genommen.

Altersschätzungen häufig fehlerhaft

Er muss zur Altersschätzung. Die zuständigen Mitarbeiter führen mit ihm ein Gespräch, um sein Alter einzuschätzen. In solchen Gesprächen werden Papiere aus Afghanistan in aller Regel nicht anerkannt - so auch bei Arshedkhan. Die Mitarbeiter stufen ihn unter anderem aufgrund vorgegebener Kriterien wie Halsfalten und Bartwuchs als volljährig ein. Diese Kriterien sind zwar behördlich vorgesehen, aber stark umstritten. Denn mit ihnen kann man ein Alter lediglich schätzen.

Formular

Formular zu Altersschätzung - die Kriterien sind umstritten.

Arshedkhan gilt nun als volljährig und wird in eine Unterkunft für Erwachsene verlegt. Für ihn eine beängstigende Situation: "Weil die Mitbewohner sich nachts betrinken und berauschen. Ich habe Angst, dass sie mir in ihrem Zustand etwas antun können."

Anne Harms ist von diesen Schilderungen nicht überrascht. Seit 29 Jahren leitet sie in Hamburg die kirchliche Beratungsstelle Fluchtpunkt. Sie erlebe immer wieder, sagt sie, dass unbegleitete minderjährige Geflüchtete aufgrund fehlerhafter Altersschätzungen in Einrichtungen für Erwachsene untergebracht würden. Die Folgen seien "gravierend".

Jugendämter in der Verantwortung

Eigentlich genießen Kinder und Jugendliche in Deutschland einen besonderen rechtlichen Schutzstatus - unabhängig von ihrer Herkunft. Das regeln unter anderem die UN-Kinderrechtskonvention und das Sozialgesetzbuch.

Wenn geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne Eltern oder andere erwachsene Angehörigen nach Deutschland kommen, werden die zuständigen Jugendämter zu so etwas wie ihrem vorläufigen Elternersatz.

Die zuständigen Mitarbeitenden, Amtsvormünder genannt, sollen möglichst schnell eine reguläre Unterkunft für die Jugendlichen finden, die passende pädagogische und bei Bedarf auch psychologische Betreuung organisieren und dafür sorgen, dass die Kinder zur Schule gehen. Bei Arshedkhan ist all das nicht passiert, weil er volljährig geschätzt wurde.

Standardabsenkungen auf Länderebene

Doch die Panorama-3-Recherchen zeigen: Selbst Jugendliche, die von den Behörden als minderjährig eingestuft sind, werden nicht so betreut und untergebracht wie ursprünglich gesetzlich vorgesehen. Hintergrund ist, dass viele Bundesländer angesichts wieder gestiegener Flüchtlingszahlen vor zwei Jahren neue Regelungen erlassen haben. Diese erlauben es, von den eigentlich geltenden rechtlichen Standards abzuweichen.

In Thüringen können nun beispielsweise 16-Jährige in Gemeinschaftsunterkünften mit Erwachsenen untergebracht werden. In Baden-Württemberg wurde in regulären Unterkünften die Anzahl der Fachkräfte halbiert. Und in Niedersachsen darf die Mindestquadratmeterzahl von sechs Quadratmetern pro Jugendlichen unterschritten werden.

Von Seiten der Länder heißt es in den entsprechenden Erlassen, all das geschehe immer mit Blick auf das "Kindeswohl zeitlich befristet" und sei eine Reaktion auf die gestiegenen Flüchtlingszahlen bei gleichzeitig existierendem Fachkräftemangel.

Doch das Problem ist mindestens in Teilen hausgemacht. Als die Flüchtlingszahlen 2018 sanken, haben viele Bundesländer ihre Kapazitäten heruntergefahren.

Behördenmitarbeiter schildern Missstände

Für die zuständigen Mitarbeiter in den Jugendämtern ist die aktuelle Situation oftmals unerträglich, wie Hintergrundgespräche zeigen, die Panorama 3 führen konnte. Doch kaum jemand traut sich, diese Kritik öffentlich zu machen.

Unter der Zusicherung von Anonymität äußert sich dann doch noch eine Mitarbeiterin der Hamburger Sozialbehörde. Ihr sei es wichtig, die "strukturellen Missstände" endlich öffentlich zu machen, begründet sie ihre Entscheidung. Die Behörde wisse schließlich seit mehr als anderthalb Jahren um die Situation der Kinder und Jugendlichen.

Als Amtsvormundin soll sie zu den Jugendlichen, für die sie verantwortlich ist, eigentlich eine Beziehung aufbauen. Aber das sei derzeit gar nicht möglich: "Wir machen nur noch Krisenarbeit." Sie sehe "ihre Jugendlichen" maximal drei- bis viermal im Jahr. Eine Zahl, die auch die Hamburger Sozialbehörde bestätigt. Dabei ist ein Besuch pro Monat gesetzlich vorgeschrieben.

Situation deutschlandweit angespannt

Deutschlandweit sind Amtsvormunde wie die Frau aus Hamburg oft für jeweils 50 Kinder und Jugendliche zuständig. Sie arbeiten damit an der rechtlich zulässigen Höchstgrenze.

Zusätzlich müssen sie sich auch noch um die Kinder und Jugendlichen kümmern, denen mangels Personals nicht einmal ein richtiger Vormund zugeteilt werden konnte. Panorama 3 hat versucht, dazu aussagekräftige Zahlen aus den Ländern zu bekommen.

Viele antworten nur unzureichend und verweisen auf die Zuständigkeit der Kommunen. Doch die Zahlen, die übermittelt werden, zeigen: Vielerorts fallen Kinder und Jugendliche komplett durchs Raster. So sind zum Zeitpunkt der Abfrage in Baden-Württemberg fast 400 Kinder ohne Vormund, in Berlin 900 und in Hamburg 200.

Die Hamburger Sozialbehörde teilt dazu schriftlich mit: Man setze auch für Jugendliche ohne Vormund den Schutzanspruch konsequent um. Die Frau, die als Amtsvormund in der gleichen Behörde arbeitet, widerspricht: "Ja, wir stellen vielleicht die Anträge für die Hilfen zur Erziehung. Ja, wir stellen Asylanträge. Aber ansonsten hat der Jugendliche nichts."

Die Tatsache, dass nicht jeder Jugendliche einen Amtsvormund habe, der die Interessen so vertrete wie gesetzlich vorgesehen, sei für sie Kindeswohlgefährdung. Es müsse sich dringend etwas ändern.

Wenn es den Behörden nicht gelinge, sich gut um die Jugendlichen zu kümmern, bestünde bei einigen sonst die Gefahr, dass sie andernorts Halt suchen, so die Vormundin. "Dann wenden sie sich von uns ab und wenden sich dahin, wo sie gesehen werden. Und das sind dann natürlich meistens Menschen, die nichts Gutes mit ihnen im Schilde führen."

Arshedkhan Meerazam

Arshedkhan fühlt sich von den Behörden alleingelassen.

Korrektur kam zu spät

Arshedkhan lebt bis heute in einer Containerunterkunft für Erwachsene. Er fühlt sich von den deutschen Behörden alleingelassen. Er konnte zwar erfolgreich Widerspruch gegen seine Altersfeststellung einlegen. Doch der entsprechende Bescheid kam zu spät - kurz danach ist er offiziell volljährig geworden.

Zwei Jahre, in denen er Anspruch auf Betreuung, Förderung und Schulbildung gehabt hätte, sind unwiederbringlich verloren.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet NDR Fernsehen am 27. August 2024 um 21:15 Uhr in Panorama 3.