Ein Junge in der Nähe des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos.
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Flucht nach Europa 51.000 geflüchtete Minderjährige vermisst

Stand: 30.04.2024 06:00 Uhr

Europaweit gelten mehr als 51.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als vermisst. Sie kamen zwischen 2021 und 2023 in Europa an und befanden sich in staatlicher Obhut. Bis heute haben die Behörden keine Kenntnisse über ihren Verbleib.

Von Tina Friedrich und Jan Wiese, RBB

Die Bundespolizisten trauten ihren Augen nicht, als sie spät abends im September 2023 kurz hinter der deutsch-polnischen Grenze einen Mercedes-Transporter mit schwedischem Kennzeichen stoppten: Am Steuer saß ein 15-jähriger syrischer Junge. Im Frachtraum nicht etwa Kisten oder Pakete, sondern 27 syrische und jemenitische Geflüchtete, die nach Deutschland geschleust werden sollten.

Der syrische Junge war in Deutschland kein Unbekannter. Zwei Jahre lang lebte er als Geflüchteter in einer thüringischen Kinder- und Jugendeinrichtung. Mit 13 war er ohne Eltern oder andere Angehörige nach Deutschland gekommen.

Solche unbegleiteten Minderjährigen werden nach ihrer Registrierung in einer Erstaufnahmestelle bundesweit verteilt und von den Jugendämtern in eine Unterkunft vermittelt. Dort sollen sich Betreuer um sie kümmern. Oft gelingt das, doch immer wieder geht etwas schief - und die Kinder und Jugendlichen verschwinden aus den Einrichtungen. Und damit verschwinden sie oft ganz vom Radar der Behörden, und das europaweit.  

Große Defizite bei der Datenerhebung 

51.433 minderjährige Geflüchtete werden aktuell in ganz Europa vermisst. Das ergibt eine exklusive Datenrecherche des europäischen Journalistennetzwerks "Lost in Europe", zu dem neben dem belgischen "De Standaard" und der niederländischen Tageszeitung "NRC", auch die italienische Nachrichtenagentur ANSA und rbb24 Recherche gehören.

Noch vor drei Jahren lag diese Zahl bei etwa 18.300. Auch in Deutschland sind die Zahlen in diesem Zeitraum deutlich gestiegen, von 724 im Jahr 2021 auf heute 2.005.

Dabei offenbart die Recherche erhebliche Defizite bei der Erhebung der Daten über verschwundene minderjährige Geflüchtete. Von den zuständigen Behörden in 31 europäischen Ländern haben lediglich 15 auf die Anfragen des Recherchenetzwerks geantwortet.

Während einige Länder wie Italien und Österreich besonders drastische Zahlen melden, mit jeweils mehr als 20.000 verschwundenen Kindern und Jugendlichen, sammeln andere wie zum Beispiel Spanien oder Griechenland gar keine Informationen über unbegleitete Kinder und Jugendliche.  

EU-Kommission spricht von "kaputtem" System 

Europaweite Vorgaben für die Registrierung und den Informationsaustausch über das Schicksal minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter gibt es bisher nicht. Die sehr hohen Zahlen vermisster junger Geflüchteter kann die zuständige EU-Kommissarin für Migration und Inneres, die Schwedin Ylva Johansson, deshalb nicht kommentieren. "Ich habe keine Kenntnis darüber, ob Ihre Zahlen stimmen. Ich kann sagen, dass wir ein kaputtes Migrationssystem in Europa haben", sagt sie im Exklusiv-Interview mit rbb24 Recherche.

Wenn minderjährige Geflüchtete aus der Obhut der Behörden verschwinden, müssen sie als vermisst gemeldet werden. Manche tauchen nach einigen Tagen wieder auf, in einer anderen Stadt, einer anderen Kommune. In Deutschland gehen Fachleute davon aus, dass viele deshalb ihre Einrichtungen verlassen, weil sie mit der langen Verfahrensdauer unzufrieden sind, sich in anderen Ländern schnellere Hilfe erhoffen, oder eigentlich zu Verwandten oder Freunden in anderen europäischen Ländern wollten. Das BKA bestätigt diese Vermutung.

Die europaweite Recherche ergibt: Auch in anderen Ländern lassen sich die Ursachen für das Verschwinden der Jugendlichen oft nicht genau feststellen. Ein Grund ist, dass der innereuropäische Datenaustausch oft nicht funktioniert.

Deutsche Strukturen überlastet 

In Deutschland seien außerdem die Strukturen derzeit sehr überlastet, sagt Helen Sundermeyer vom Bundesverband für unbegleitete minderjährige Geflüchtete (BumF). "Gerade am Beginn oder nach der Ankunft der jungen Menschen beobachten wir, dass das der Zeitpunkt ist, wo die meisten jungen Menschen als vermisst gemeldet werden." Denn in dieser Phase habe man die Betreuungsstandards gesenkt, um trotz Personalmangels die Versorgung sicherzustellen.

Die Überlastung der Hilfsstrukturen ist gepaart mit lückenhaften Daten über den Verbleib der Kinder und Jugendlichen. Die Folgen können für die jungen Menschen gravierend sein, warnt Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk. "Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Das kann sein, dass sie kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren. Solche Fälle kennen wir."  

So wie der 15-jährige Syrer, der im September in Sachsen von der Bundespolizei festgenommen wurde. Er soll einem Zeitungsbericht zufolge vor Gericht ausgesagt haben, dass ihn genau jener Schlepper angeworben habe, der ihn selbst zwei Jahre zuvor nach Deutschland gebracht hat.

Dass so eine Anwerbung überhaupt gelingen kann, liegt laut Sundermeyer auch an der Perspektivlosigkeit, mit der viele jugendliche Geflüchtete in Deutschland konfrontiert sind. "Im Moment haben wir an ganz vielen Stellen eine schlechte Betreuung, und zu viele Nicht-Fachkräfte, die weder Zeit noch Ressourcen haben, diese Orientierung zu geben." Für Geldversprechen oder andere unseriöse Lockangebote können Jugendliche dann besonders empfänglich sein.

Migrationspakt soll Registrierung erleichtern 

Auch EU-Kommissarin Johansson sieht die Gefahr, dass "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Opfer von Menschenhändlern werden, wenn sich diese Minderjährigen bereits in der EU befinden".  

Immerhin soll jetzt ein einheitliches Registrierungssystem für unbegleitete minderjährige Geflüchtete eingeführt werden. Das löst zwar nicht das Problem der aktuell vermissten Kinder. Doch die EU-Länder sollen nun bessere Voraussetzungen schaffen und die Vermittlung von Ansprechpersonen und Vormündern erleichtern.

Doch von den geplanten Rechtsvorgaben ist erst ein kleiner Teil verabschiedet. Die finale Abstimmung ist im Mai. Danach müssen die Mitgliedsländer die neuen Vorgaben noch in nationales Recht überführen. "Ich habe von allen 27 Staaten die Zusage bekommen, dass sie das tun werden", sagt EU-Kommissarin Johansson.

Notfalls bleibe noch die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein säumiges Land einzuleiten. Diese Verfahren dauern Jahre.