Flüchtlingskinder Von der Hoffnung zum Fiasko
Eigentlich sollte Deutschland kranke und psychisch belastete Flüchtlingskinder aus den überfüllten Lagern in Griechenland aufnehmen. Doch genau das ist nach Recherchen von Report Mainz nicht geschehen.
Es waren Bilder, die zeigen sollten: Deutschland hilft, auch und gerade in Zeiten der Corona-Krise. 47 Kinder und Jugendliche steigen am 18. April in Athen in ein Flugzeug Richtung Hannover, kommen endlich heraus aus dem Elend auf Lesbos, Samos oder Chios. Deutschland wolle sich an der Aufnahme von 1000 bis 1500 Kindern aus den griechischen Lagern beteiligen - so steht es im Koalitionsbeschluss vom 8. März:
Es handelt sich dabei um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder aber unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten davon Mädchen.
Kurz darauf geriet einiges in Bewegung: Viele Organisationen erstellten Listen mit besonders gefährdeten Kindern, auch "Ärzte ohne Grenzen" war im regen Kontakt mit dem Bundesinnenministerium. Die Organisation betreibt vor Ort eine Klinik für Kinder und Familien. Die Mitarbeiter sammelten Namen und Daten von mehr als 150 Kindern, die wegen schwerer Erkrankungen dringend evakuiert werden müssten. Der deutsche Koalitionsbeschluss gab ihnen Hoffnung, dass sich endlich etwas tut.
Keine Kranken dabei
Abdullahs Sohn ist auch auf dieser Liste - er hat einen schweren Herzfehler. "Er hat jetzt sieben Operationen hinter sich und braucht dringend zwei weitere. Aber hier auf der Insel geht das nicht. Mein Sohn wünscht sich, er hätte Corona, dann würden wir vielleicht hier rauskommen, er könnte versorgt werden. Alles besser als das Lager hier", sagte Abdullah im Interview mit Report Mainz.
Doch von den 47 Kindern, die nach Deutschland gebracht wurden, stand keines auf der Liste. "Als Arzt ärgere ich mich sehr darüber, dass sie nicht die kranken Kinder evakuiert haben. Die hätten als erstes hier raus gemusst, weil sie gerade jetzt am anfälligsten sind", sagt Matthias Vermaelen, einer der behandelnden Ärzte auf Lesbos. Viele der kranken Kinder auf der Liste von "Ärzte ohne Grenzen" sind mit ihren Familien in den Lagern - doch in Deutschland kamen nur unbegleitete Minderjährige an. "In gutem Gesundheitszustand", wie es später von den zuständigen Behörden hieß.
Was also wurde aus der Ankündigung im Koalitionsbeschluss, besonders behandlungsbedürftige Kinder herauszuholen? Das Bundesinnenministerium antwortet auf Report Mainz-Anfrage: "Bei anstehenden Überstellungen wird der Fokus auf der Gruppe der dringend behandlungsbedürftigen Kinder liegen." 350 weitere Kinder wolle man aufnehmen - andere EU-Staaten müssten aber erstmal nachziehen. "Der Zeitplan hängt maßgeblich von der Entwicklung der Covid-19-Pandemie ab", so das Ministerium. Die Kranken also erst retten, wenn Corona abflacht?
Zeitnot und Chaos
Andrew Foley arbeitet auf Lesbos mit seiner Organisation "Better Days" als Betreuer von minderjährigen Flüchtlingen. Er hat die deutsche Relocation-Aktion mitverfolgt - und hält die Umsetzung für ein Fiasko. Ständig seien die Kriterien gerändert worden, am Ende habe Chaos geherrscht: "Es wurde wegen Zeitnot nicht gründlich gearbeitet und kein richtiges Verfahren durchgeführt. Es gibt hier extrem gefährdete Kinder, die dringend raus müssten oder schwer krank sind. Die wurden nicht priorisiert", sagte Foley.
Ein griechischer Offizieller, der im Lager mit Minderjährigen arbeitet, bestätigt diese Aussagen. Es sei den Kindern nie klar kommuniziert worden, nach welchen Kriterien ausgewählt werde. So habe die Aktion viele verzweifelte Minderjährige zurückgelassen. Eines der Kinder, die zurückgelassen wurden, ist Omid (Name geändert).
Nicht umsetzbare Kriterien
Omid lebt außerhalb der so genannten "Safe Zone", also des vermeintlich geschützten Bereiches für unbegleitete Minderjährige. "Es ist sehr hart hier draußen, hier gibt es keinen Schutz für uns Minderjährige. Ständig passieren Überfälle, werden wir angegriffen", erzählt er im ARD-Interview. Auch er habe bei den Behörden im Lager nachgefragt, ob er mit nach Deutschland dürfe. Doch er sei zu alt und lebe im falschen Bereich des Camps. Omid ist nach eigenen Aussagen 15 Jahre alt.
Wie wurden die Kinder für die deutsche Relocation-Aktion am Ende ausgewählt? Lora Pappa hat diesen Prozess direkt miterlebt. Sie leitet die Wohlfahrtsorganisation "Metadrasi", ihre Mitarbeiter agieren als gesetzlicher Vormund vieler Minderjähriger. Sie war an der Auswahl der Kinder beteiligt. "Zu Beginn waren die Kriterien, die wir aus Deutschland bekommen haben, überhaupt nicht umsetzbar. Die wollten erst nur kranke, allein reisende Mädchen unter 14, so viele gibt es in Griechenland überhaupt nicht. Aber dann haben sie die Kriterien doch noch erweitert und gesagt, dass sie Familienzusammenführungen nehmen."
Nach Auffassung von Pro Asyl haben Tausende Flüchtlinge in GriechenlandAnrecht auf eine Familienzusammenführung.
Pro Asyl spricht von "Etikettenschwindel"
Das heißt: Es wurden Kinder mitgenommen, die enge Verwandte in Deutschland haben - und damit sehr gute Chancen auf eine Familienzusammenführung. 18 der 47 Kinder hätten Verwandte in Deutschland, räumt das Innenministerium ein. Acht von ihnen hätten bereits einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, es hätten bislang aber nicht die nötigen Voraussetzungen vorgelegen.
Pro Asyl wirft dem Bundesinnenministerium daher "Etikettenschwindel" vor: "Man muss einfach sehen, dass diese Relocation-Aktion als humanitär verkauft wird. Aber zahlreiche Fälle hatten eigentlich einen Rechtsanspruch nach Deutschland zu kommen. Also hier findet auch ein Etikettenschwindel statt", sagt der Europa-Verantwortliche von Pro Asyl, Karl Kopp.
Kritik von den Grünen
Auch der Europa-Abgeordnete Erik Marquardt kritisiert die Aktion: "Ich glaube, dass man nicht sagen kann, wir machen eine humanitäre Aktion, zerren die Leute vor die Kameras und am Ende zeigt sich aber dann in der Realität, dass man sehr viele Kinder hat, die eigentlich das Recht haben, mit ihren Familien zusammengeführt zu werden", sagt der Grünen-Politiker. Denn während 47 Kinder unter großem organisatorischen Aufwand nach Deutschland gebracht wurden, warten Hunderte andere in Griechenland auf die Genehmigung ihrer Familienzusammenführung.
Doch oft würden diese Anträge in Deutschland abgelehnt, kritisiert Kopp: "Hätte Deutschland sich an europäisches Recht gehalten und die Familienzusammenführung ernsthaft umgesetzt, dann hätten wir mehrere tausend Menschen ganz legal nach europäischem Recht einreisen lassen können. Dafür braucht man kein Relocation-Programm, sondern es ist einfach ein individuelles Recht."