Hygienestandards nicht beachtet Tod nach Narkose beim Zahnarzt
Eine Vollnarkose sollte nur eingesetzt werden, wenn es unvermeidlich ist. Gerade für Kinder bieten viele Zahnarztpraxen diese aber an. Dabei kam es auch schon zu Todesfällen. Laut Report Mainz-Recherchen besteht das Problem seit Langem.
Am 23.10.2002 hatte die damals drei Jahre alte Sina-Mareen aus Bad Mergentheim einen Termin beim Kinderzahnarzt. Auf Anraten der behandelnden Ärztin sollen ihr zwei Milchzähne gezogen werden. Die Operation soll unter Vollnarkose geschehen. Doch zwölf Stunden später spitzt sich die Situation zu. Sina-Mareen stirbt im Krankenhaus an einem septisch-toxischen-Schock, einer Blutvergiftung. Das verwendete Narkosemittel, Propofol, ist mit Bakterien verunreinigt gewesen.
Den Eltern Claudia und Alex Höfner lässt der tragische Todesfall auch 22 Jahre später keine Ruhe. Laut Gerichtsurteil war der Tod vermeidbar, der Narkosearzt habe fahrlässig gehandelt. Die Polizei stellt nachträglich unhaltbare hygienische Zustände in der Praxis des Anästhesisten fest. Außerdem ist Sina-Mareen in der Aufwachphase in der Zahnarztpraxis nicht ordnungsgemäß überwacht worden, heißt es im Urteil.
Zuhause bekommt Sina-Mareen sehr hohes Fieber und fängt an zu halluzinieren. Daraufhin bringen die Eltern ihre Tochter in ein Krankenhaus. Dass der Zustand immer kritischer wird, können auch die Ärzte in der Klinik nicht mehr verhindern. Nach wenigen Stunden verstirbt Sina-Mareen. Fünf Jahre nach ihrem Tod wird der Narkosearzt zu zwei Jahren auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Es dauert Jahre, bis ihm die Approbation entzogen wird.
Kein Einzelfall
Rund 20 Jahre später, ein anderer Arzt, ein ähnlicher Fall. In einer Zahnarztpraxis in Kronberg soll sich die vier Jahre alte Emilia einer Kariesbehandlung unterziehen, wieder unter Vollnarkose. Emilia wird ebenfalls mit dem Narkosemittel Propofol behandelt. Der behandelnde Narkosearzt W. soll sich nicht an die hygienischen Mindeststandards gehalten haben. Durch eine Blutvergiftung stirbt Emilia noch in der Zahnarztpraxis. Auch hier stellen Gutachter fest: Dieser Arzt habe nicht sorgfältig genug gehandelt. Emilias Tod wäre wohl vermeidbar gewesen.
Innerhalb von 24 Stunden habe der erfahrene Narkosearzt W. vier verschiedene Kinder behandelt. Von den Kindern erlitten alle eine Blutvergiftung, zwei überlebten nur knapp. Emilia konnte nicht mehr gerettet werden, denn auch als sich ihr Zustand weiter verschlechterte, entscheiden die Ärzte offenbar erst spät, den Notarzt einzuschalten.
Dafür musste sich W. vor dem Landgericht Frankfurt verantworten. Das Urteil wurde nun am vergangenen Freitag gesprochen: Zehneinhalb Jahre Haft wegen Totschlags und dreifachen versuchten Totschlags sowie Körperverletzung mit Todesfolge und dreifacher Körperverletzung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Bereits 2019 war W. für den Tod einer 40-jährigen Frau in einer Mannheimer Uniklinik schuldig gesprochen worden. Auch hier war eine Zahnbehandlung unter Vollnarkose vorausgegangen. Aber bis zur Rechtsprechung dauerte es rund zwei Jahre. Danach vergingen weitere drei Monate, bis ein Berufsverbot erteilt wurde. In der Zwischenzeit verabreichte er Emilia und den anderen Kindern das verunreinigte Narkosemittel. Die zuständige Approbationsbehörde teilt uns auf Nachfrage mit: "Die Approbation wurde zum frühestmöglichen Zeitpunkt entzogen."
Der Anästhesist wollte zu den Vorwürfen nicht Stellung nehmen. Ein Interview lehnt er ab. Schriftlich teilt sein Anwalt mit, sie würden das Urteil sorgfältig prüfen.
Hygienestandards nicht eingehalten
Für Uwe Schulte-Sasse sind solche Todesfälle keine einzelnen Vorkommnisse. Der medizinische Gutachter und ehemalige Direktor einer Klinik für Anästhesie beobachtet immer wieder ähnliche Vorkommnisse - und zwar seit Jahren: "Das sind keine exotischen Einzelfälle. Da ist ein Muster drin, was ich in meiner Tätigkeit als Sachverständiger über bald 20 Jahre wiederholt glaube zu erkennen. Das sind wiederholt Fälle, bei denen eine Substandard-Versorgung stattgefunden hat, nicht so, wie sie den Regeln der ärztlichen Kunst entspricht. Da sind die Hygienestandards nicht beachtet worden."
Dabei gibt es klare Leitlinien. Anästhesisten sollten im Team arbeiten und die Patienten im Aufwachraum überwachen. Sauerstoff-Sättigung, EKG, Blutdruck müssen durchgehend gemessen werden. Bei Komplikationen ist ein schnelles Eingreifen wichtig. Laut den Gerichtsurteilen war das bei Emilia und Sina-Mareen teilweise anders. Emilias Narkosearzt soll laut Landgericht Frankfurt allein gearbeitet haben, ohne Assistenz. Bei beiden sollen Propofol-Flaschen verunreinigt gewesen sein.
Vollnarkose nur in Ausnahmefällen
Nach Recherchen von Report Mainz kamen in den vergangenen 20 Jahren mindestens zehn weitere, meist kleine Kinder nach ambulanten Anästhesien ums Leben oder wurden schwer geschädigt. Die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) schreibt in einem Positionspapier von 2023: "Eine Narkosebehandlung ist immer nur die Ultima Ratio". Ambulante Narkosen seien ausschließlich dazu da, "dringende zahnärztliche Behandlungen bei Patienten zu ermöglichen, bei denen alle anderen Versuche, eine Kooperation herzustellen, fehlgeschlagen sind".
Laut einer internen Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnmedizin (DGKiZ) aus dem April 2024 gaben rund 600 Kinderzahnärzte an, in den vergangenen zwölf Monaten rund 115.000 Behandlungen in Allgemeinanästhesie durchgeführt zu haben. Davon soll es sich bei rund 106.000 Behandlungen um Kinder unter zwölf Jahren gehandelt haben. Wie häufig es zu Komplikationen wie Hirnschäden oder zu Todesfällen kommt, wird nicht erfasst.
Keine Kontrollen und lange Verfahren bis zum Berufsverbot - dabei setzt die Bundesregierung auf ambulante Eingriffe. Der stärkere Ausbau ambulant zu erbringender medizinischer Leistungen ist im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP verankert. Auf konkrete Fragen von Report Mainz antwortet das Bundesgesundheitsministerium nicht, verweist nur allgemein auf "medizinische Leitlinien" und "Qualitätssicherung".
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