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Reality-TV Gewalt, Sex und Alkohol

Stand: 30.04.2024 05:00 Uhr

Das Geschäft mit Reality-TV-Formaten floriert, doch hinter der schillernden Fassade offenbaren sich auch Schattenseiten. Wie Vollbild-Recherchen zeigen, soll es am Set eines RTL-Reality-Formats zu einem sexuellen Übergriff gekommen sein.

Von Sarah Lehnert und Nino Seidel, SWR

Sie malen eine - zumindest optisch - perfekte Welt mit aufregenden Dates am Strand, viel nackter Haut und wilden Partys: Reality-Shows. Zwar gibt es Reality-TV bereits seit etwa 25 Jahren in Deutschland, aber gerade in jüngster Zeit boomt das Genre.

In den vergangenen Jahren ist der Markt regelrecht explodiert. Immer mehr Formate sprießen aus dem Boden. Reality-Shows wie "Are You The One", "Temptation Island", "The 50", "Too hot to handle", "Sommerhaus der Stars" oder "Prominent getrennt" erzielen Reichweiten und Aufmerksamkeit bei jüngeren Zielgruppen. Inzwischen sind auch große Streaming-Anbieter wie Netflix und Amazon Prime ins Reality-Business eingestiegen.

Die meisten Shows in Deutschland lässt der Kölner Privatsender RTL produzieren. Er bezeichnet sich selbst als "Home of Reality". "Wir lieben unsere Reality-TV-Formate", teilt RTL Deutschland auf Anfrage von Vollbild mit. Der Sender sei stolz auf Erfolgsmarken wie "Ich bin ein Star holt mich hier raus" oder "Der Bachelor" und fühle sich dem Genre verbunden.

Das Repertoire sei in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut worden. "'Realitystar' zu werden ist mittlerweile ein Berufswunsch und viele Protagonist:innen haben ihre Social Media Karrieren in unseren Formaten gestartet", erklärt RTL Deutschland. Tatsächlich verdienen mittlerweile einige Teilnehmer der Sendungen nach Vollbild-Recherchen allein durch Reality-TV-Gagen und Instagram-Reichweite monatlich fünfstellige Summen.

Schattenseiten der TV-Traumwelten

Doch Vollbild-Recherchen enthüllen nun auch Schattenseiten der Branche. So zeigt eine Undercover-Recherche mit Lockvögeln, die an einem Casting für ein bekanntes Reality-Format teilgenommen haben, dass Caster bewusst auch nach Kandidatinnen und Kandidaten suchen, die für Krawall sorgen. Außerdem üben Reality-TV-Stars im Interview mit Vollbild Kritik.

Insider auf Produktionsseite und auf Seite der Teilnehmenden schildern überraschende Eindrücke hinter den paradiesisch-traumhaften Bildern der Reality-Welt. Sie erzählen von exzessivem Alkoholkonsum und Schlafentzug bei Reality-TV-Shows, von Gewalt und Sex am Set, Manipulation und verzerrter Darstellung sowie vom bewussten Casting von Kandidatinnen und Kandidaten, die Krawall versprechen.

Sexueller Übergriff?

Nach Vollbild-Recherchen soll es während der Dreharbeiten eines bekannten RTL-Dating-Formats sogar zu einem sexuellen Übergriff gekommen sein. Teilnehmerin Nina (Name von der Redaktion geändert) erzählt Vollbild von einem Vorfall während einer Party am Set. Aus Gründen des Informantenschutzes werden weder ihr Name oder der Name des angeblichen Täters noch das Format genannt, weil dies Rückschlüsse auf die Betroffene erlauben könnte. Die Vollbild-Redaktion kennt die Namen.

Nina schildert, sie sei mit einem Teilnehmer, dem späteren mutmaßlichen Täter, in ein Badezimmer gegangen. "Ich habe gedacht, wir wollen quatschen. Dann hat er mich umgedreht, mir mein Höschen runtergezogen und wollte mit mir Sex haben. Ich habe mehrfach 'Nein' gesagt, doch er hat es immer wieder versucht." Dann sei ein Mitarbeiter von der Produktion herbeigeeilt und habe die Situation aufgelöst. "Sie hatten auf der Tonspur gehört, dass ich 'Nein, Stopp' gesagt habe, weil wir und das Bad verkabelt waren", erzählt Nina.

Produktionsfirma: Aufklärung des Vorfalls nicht möglich

Vollbild sprach mit weiteren Teilnehmern des Formats sowie mit einem Mitarbeiter der Produktion. Eine andere Teilnehmerin schildert das weitere Geschehen: "Es war irgendwie sehr chaotisch, einfach weil niemand so richtig wusste, was passiert ist. Der Teilnehmer musste dann gehen, und die Teilnehmerin ist zurückgeblieben und war voll am Heulen, sie war aufgelöst."

Konfrontiert mit den Vorwürfen lässt die zuständige Produktionsfirma über eine Anwaltskanzlei mitteilen: "Die Vorwürfe der von Ihnen zitierten Teilnehmerin gegenüber einem anderen Teilnehmer der Dreharbeiten können von unserer Mandantschaft weder bestätigt noch bestritten werden. (...) Die Teilnehmerin berichtete, dass der männliche Teilnehmer einmal versucht habe, ihr Höschen auszuziehen. Dem habe sich die Teilnehmerin erfolgreich widersetzt. Der Teilnehmer bestritt den Vorwurf." Da sich die Situation im Off-Cam-Bereich ereignet habe und es sich um eine Aussage-gegen-Aussage-Situation handele, sei eine abschließende Aufklärung des Sachverhalts nicht abschließend möglich.

Die Party wurde dann laut Teilnehmern und Produktionsfirma aufgelöst. Der Teilnehmer habe das Set verlassen müssen. "Anlässlich der Auflösung der Party wurde die Teilnehmerin nochmal zu dem von ihr erhobenen Vorwurf befragt. Die Teilnehmerin wiederholte ihren Vorwurf nicht, rückte vielmehr von ihm ab", schreibt die Anwaltskanzlei der Produktionsfirma.

Teilnehmerin kritisiert Umgang mit Vorfall

Teilnehmerin Nina kritisiert, ihr sei in dem Moment nach dem Vorfall von Seiten der Produktionsfirma zu wenig Einfühlungsvermögen und Verständnis entgegengebracht worden. Sie behauptet darüber hinaus, dass man ihr gesagt habe, sie solle die Geschichte "nur nicht nach draußen tragen". Ihr sei es nicht gut gegangen.

Die Produktionsfirma lässt mitteilen, am nächsten Tag sei mit der Teilnehmerin nochmals ein Gespräch geführt worden, man habe ihr psychologische Hilfe angeboten. Auch dort habe sie den Vorwurf nicht wiederholt. Von einem sexuellen Übergriff sei nicht die Rede gewesen. "Falsch ist (…) die Behauptung, unsere Mandantschaft habe der Teilnehmerin geraten, nicht weiter über diesen Vorfall zu sprechen."

Die besagte Partynacht wird in dem Format über mehrere Minuten hinweg dargestellt, der Vorfall hingegen wird in der betreffenden Folge nicht erwähnt. Laut Produktionsfirma wurde er deshalb nicht erzählt, "weil er sich (...) im sogenannten Off-Cam-Bereich abspielte, weshalb keinerlei Aufnahmen existieren." Der Sender RTL, der das Format produzieren ließ und ausstrahlte, äußerte sich auf Anfrage bis Redaktionsschluss nicht zu den Vorwürfen und Geschehnissen des Abends.

Insider berichtet von Gewalt, Sex und Manipulation

Die Vollbild-Recherchen zeigen zudem fragwürdige Produktionsbedingungen am Set von Reality-Shows. So berichtet ein ehemaliger Realisator von Reality-TV-Formaten, der namentlich nicht genannt werden möchte, von manipulativen Strategien und fragwürdigen Methoden im Umgang mit Kandidatinnen und Kandidaten. Teilnehmer von Reality-Shows, an deren Produktion der Insider am Set und hinter Kamera beteiligt war, seien in Interviews und Gesprächen manipuliert, aufeinander aufgehetzt und gezielt gereizt worden.

"Ich nehme dann zum Beispiel in Kauf, dass da jemandem die Hand ausrutscht, weil man einfach gesagt hat, na ja, es passiert dann zumindest was. Wie auf dem Schulhof der kleine Bully, der dasteht und einen Heidenspaß daran hat, dass sich zwei Leute kloppen", erzählt der ehemalige Realisator. Man entziehe den Teilnehmern beispielsweise Essen, Luxusartikel oder eine Dusche oder man beschalle sie nachts mit Schlagermusik. "Wenn sie gereizter sind oder wenn sie dünnhäutig sind, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie gleich ausflippen", sagt der Insider.

Er beschreibt zudem, dass die Produzenten gezielt Inhalte beeinflussten: "Möchte ich jetzt möglichst viel Sex in der Sendung haben oder möchte ich Gewalt in der Sendung haben? Möchte ich viel Romantik in der Sendung haben? Danach wählst du ja deine Kandidaten, die du mitnimmst." Auch wenn er persönlich keine Grenzen überschritten habe, sei es vorgekommen, dass er auch mal versucht habe, "eine Person zu brechen", um "Emotionen von dieser Person zu bekommen" oder ihr "die Maske, die sie sich selbst aufgesetzt hat, herunterzureißen".

Aufmerksamkeit durch "Skandalmarketing"

Produktionsfirmen suchen Vollbild-Recherchen zufolge auch gezielt nach Teilnehmern, die vor laufender Kamera ausrasten oder Streit provozieren. Als eine solche Teilnehmerin gilt etwa Walentina Doronina, einem größeren Publikum bekannt aus mehr als 14 Reality-Shows. Sie sagt selbst über sich, die Sender wüssten, dass mit ihr die Einschaltquote steige. Sie bringe "Stimmung" in eine Show und nehme Kritik an ihrem polarisierenden Verhalten bewusst in Kauf: "Jeder, der über mich redet, soll weitermachen. Die sollen weitermachen, die sollen jedes Mal kotzen, wenn sie mich sehen", so Walentina Doronina. Wenn über sie geredet werde, bleibe sie interessant.

Solch ein Verhalten bezeichnet Christian Schicha als "Skandalmarketing". Er ist Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. "Skandalmarketing ist ja im Grunde genommen eine klassische Kategorie, dass ich versuche, über Polemik, Provokationen, spezifische Auftritte bis hin zu Symbolen Aufmerksamkeit zu generieren. Skandalmarketing in Bezug auf die Kandidaten sieht dann so aus, dass jemand dann komplett ausrastet, Leute beschimpft, droht, aggressiv wird."

Eine der von den Vorwürfen betroffenen Produktionsfirmen lässt über eine Anwaltskanzlei mitteilen, dass sie alle Vorwürfe zurückweise. Andere betroffene Produktionsfirmen wollten sich gar nicht zu ihren Formaten äußern und verweisen auf ein allgemeines Statement von RTL. Der Sender teilte Vollbild mit: "Alle Produktionshäuser arbeiten mit strengen Compliance Richtlinien, deren Einhaltung sie sich uns gegenüber verpflichten."

Ex-Teilnehmerin kritisiert exzessivem Alkoholkonsum

Eine ehemalige Teilnehmerin eines populären Reality-TV-Formats berichtet Vollbild von exzessivem Alkoholkonsum am Set: "Ich würde sagen, dass sie uns ausgenutzt haben in dem Sinne: Wenn wir unsere Hemmungen verloren haben, wenn wir genug Alkohol getrunken haben, dann wurde noch mehr Alkohol gebracht." Die damals 18-Jährige erzählt, es habe sich vor allem um hochprozentige Getränke wie Schnaps gehandelt.

Die Produktion habe zudem versucht, die Teilnehmerin bewusst in Richtung der Männer zu "schieben", wie sie sagt. Soll übermäßiger Alkoholkonsum die Teilnehmer dazu verleiten, Verwertbares für die Kamera zu produzieren? "Es ist verrückt, wie viel Alkohol da getrunken wurde und wie krass diese Hemmungen gefallen sind", erzählt die ehemalige Teilnehmerin.

"Das Problem ist natürlich, dass Menschen mit Alkohol ganz unterschiedlich reagieren. Manche werden müde, manche werden aggressiv, manche werden redselig", sagt Christian Schicha. Für den Medienethiker liegt es auf der Hand, dass dies ein Stück weit eingepreist und kalkuliert ist. "Da würde ich mir von Produktionsseite wünschen, dass hier sensibel und zurückhaltend mit solchen Sachen umgegangen wird."

Die verantwortliche Produktionsfirma äußerte sich auf Vollbild-Anfrage nicht. Befragt zum generellen Umgang mit Alkohol bei Reality-Formaten erklärte der Sender RTL ganz allgemein, für die Produktionsfirmen und RTL stehe die "physische und psychische Gesundheit" der Kandidaten an oberster Stelle. "Auf Vorfälle während und nach den Dreharbeiten reagieren wir individuell, der jeweiligen Lage entsprechend und mit der nötigen Feinfühligkeit für die Situation."