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Mangelnder Schutz in Ferienlagern Sind Kinder- und Jugendfreizeiten ein "Täterparadies"?

Stand: 13.08.2024 06:05 Uhr

Alkoholmissbrauch, sexuelle Übergriffe, ungeschultes Personal - kommerzielle Anbieter von Ferienlagern legen Vollbild-Recherchen zufolge teils zu wenig Wert auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen.

Von Ronja Bachofer und Timm Giesbers, SWR

"Mir wurde sehr oft irgendwas angeboten. Da gab es praktisch alles: Kokain, Xanax, ganz viele Pillen, auch Snus. Die große Bandbreite, und viele haben Drogen genommen", erzählt Maya. Die 15 Jahre alte Schülerin war vergangenes Jahr das erste Mal mit einem großen kommerziellen Anbieter von Jugendreisen in Spanien.

So wie Maya fahren in Deutschland jedes Jahr Zehntausende Kinder und Jugendliche in Ferienlager im In- und Ausland. Was Maya vor Ort erlebt habe, schockiert ihre Eltern. "Letztendlich ist es halt auch eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht", sagt Mayas Vater.

Kinder- und Jugendreisen auf dem Prüfstand

Thomas Becker, SWR, Morgenmagazin, 14.08.2024 05:30 Uhr

Alkohol und Drogen für Minderjährige? Bei Jugendreisen und in Ferienlagern kommt dies offenbar immer wieder vor. Das legen Onlinebewertungen großer Anbieter nahe. Dabei versprechen Anbieter von Kinder- und Jugendreisen unbeschwerte Abenteuer: Zelten ohne Eltern im Ausland oder Urlaub auf dem Bauernhof - ein verlockendes Angebot für vergleichsweise wenig Geld. Doch Betreuerinnen und Betreuer sowie ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichten im Interview mit dem SWR-Investigativformat Vollbild von Schattenseiten in Feriencamps. 

Sexueller Missbrauch durch Betreuer

Zwei junge Frauen berichten, sie seien als Kinder im Ferienlager sexuell missbraucht worden. Hilfe von anderen Betreuerinnen und Betreuern hätten sie nicht erhalten: "Die anderen Betreuer wussten alle davon, da bin ich mir ziemlich sicher", sagt eine von ihnen. Denn es sei offensichtlich, "wenn ich nicht mit den anderen Kindern zusammen schlafe, sondern bei ihm. Aber es hat niemand was dazu gesagt."

Nach Jahren des Albtraums, während der sie mehrere Male vom gleichen Betreuer missbraucht worden ist, hat sich das Mädchen seinen Eltern gegenüber geöffnet. Der Täter wurde schließlich wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Experten fordern erweitertes Führungszeugnis für Betreuer

Während öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe einer Kontrolle unterliegen, existiert diese für kommerzielle Anbieter nicht. Einer der größten kommerziellen Anbieter in Deutschland, Jugendtours Jugendreisen, verlangt von seinen Betreuerinnen und Betreuern weder einen Erste-Hilfe-Kurs, noch ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis. Das zeigt ein Selbstversuch von Vollbild. Es könnten also verurteilte Sexualstraftäter als Betreuungspersonal mitfahren - Jugendtours würde es womöglich nicht bemerken.

"Es ist ein ganz geringer Aufwand, so ein erweitertes Führungszeugnis zu beantragen. Was will man damit verheimlichen?", sagt Dennis Peinze. Er ist Geschäftsführer des BundesForum Kinder- und Jugendreisen.

Jugendtours schreibt dazu auf Anfrage, es gebe keine gesetzlichen Vorgaben, ein erweitertes Führungszeugnis zu verlangen. "Im Übrigen ist leider aus einem Führungszeugnis nicht vollumfänglich ersichtlich, ob der Inhaber bereits zu einem früheren Zeitpunkt strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Laufende Verfahren sind ebenfalls nicht erfasst. Demzufolge bietet das Führungszeugnis keinerlei Sicherheit." Vollbild-Recherchen zeigen jedoch, dass die meisten Anbieter auf einem erweiterten Führungszeugnis bestehen.

 Timm Giesbers mit Kindern im Ferienlager

Vollbild-Journalist Timm Giesbers recherchierte eine Woche undercover als Betreuer zu Missständen beim Jugendreise-Anbieter Jugendtours.

Onlineschulung statt praktischer Ausbildung

Ein Vollbild-Reporter unternahm den Selbstversuch und bewarb sich bei verschiedenen Anbietern als Betreuer, um herauszufinden, ob es möglich ist, ohne jegliche Qualifikation in einem Ferienlager zu arbeiten. Vom Anbieter Jugendtours Jugendreisen gab es schnell eine Zusage. Die einzige Voraussetzung, um anschließend als Betreuer eine Kinder- beziehungsweise Jugendreise begleiten zu können: eine fünfstündige Onlineschulung inklusive Abschlusstest.

Viel zu wenig, kritisiert Dennis Peinze vom BundesForum Kinder- und Jugendreisen: "In der Regel spricht man von zwei Wochenenden oder einer kompletten Woche, die so eine Schulung umfassen sollte, um dann tatsächlich auch das notwendige Handwerkszeug als Betreuerin/Betreuer zu haben. Insofern sind fünf Stunden natürlich zu wenig."

Ausbildungsstandard nur auf freiwilliger Basis

Bei einigen Anbietern von Jugendreisen und den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe hat sich die "Juleica" - die "Jugendleiter*in-Card" - als Ausbildungsstandard durchgesetzt. Um sie zu erlangen, müssen Betreuer eine mehrtägige Schulung absolvieren sowie einen Erste-Hilfe-Kurs nachweisen.

Der Anwalt von Jugendtours verweist darauf, dass die Teilnehmer neben der Onlineschulung auch "entsprechendes Informationsmaterial, welches Bestandteil der vertraglichen Bindung und zwingend von den Betreuern zur Kenntnis zu nehmen ist bzw. durchgearbeitet werden soll", erhielten. Zudem hätten alle Reiseleiter eine aktuelle Ersthelferausbildung.

Bei der fünfstündigen Onlineschulung, an der Vollbild undercover teilnahm, ließen die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Kamera ausgeschaltet. Die Abschlussprüfung, von der Jugendtours auf seiner Homepage verspricht, "deren Bestehen Bedingung der Betreuertätigkeit bei Jugendtours ist", bestand der Vollbild-Reporter absichtlich nicht.

"Nachschulung" besteht aus einer einzigen Frage

In einer Nachschulung musste der Lockvogel lediglich eine einzige Frage richtig beantworten: Was als Betreuer zu tun sei, wenn man mit Kindern zu einem Ausflug aufbricht? Die richtige Antwort ist: Alle nochmal zur Toilette schicken. Anschließend darf der Lockvogel als Betreuer bei einem Ferienlager mit sechs- bis zwölfjährigen Kindern auf einem Bauernhof in Sachsen-Anhalt arbeiten.

Zehn Euro Aufwandsentschädigung bekommt er dafür - pro Tag. Das sei branchenüblich, sagen Expertinnen und Experten. Auf die Frage nach der Abschlussprüfung teilt Jugendtours mit, "dass der Reporter die Prüfung schlussendlich bestanden hat."  

Vor Ort stößt der Lockvogel jedoch schnell an seine Grenzen: Er ist allein für eine Gruppe von sechs Jungen im Alter von zehn Jahren verantwortlich. Außer ihm besteht das Betreuerteam aus einer 21 Jahre alten Reiseleiterin und zwei 18-jährigen Abiturientinnen. Auch die beiden haben nach eigenen Angaben keinerlei Vorerfahrungen. Anfangs kümmern sie sich zu viert um insgesamt 32 Kinder. Erst am zweiten Tag reist eine weitere Betreuerin an. Sie ist 20 Jahre alt und die Einzige, die auch beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat. 

Ursula Enders

Ursula Enders, Leiterin der Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, Zartbitter.

Kommerzielle Anbieter unterliegen keiner Aufsicht

Die Betreuerinnen und Betreuer verbringen häufig alleine Zeit mit den Kindergruppen, auch bei geschlossener Tür. Das kritisiert Ursula Enders. Die Erziehungswissenschaftlerin ist im Vorstand des Vereins Zartbitter und betreut seit Jahrzehnten Opfer von sexuellem Missbrauch. Sie sieht die fehlenden Schutzkonzepte bei kommerziellen Anbietern als großes Problem.

"Kommerzielle Anbieter unterliegen keiner fachlichen Aufsicht, keinerlei Sanktionsmöglichkeiten", beklagt Enders. "Jede Pommesbude wird vom Gesundheitsamt kontrolliert, aber jeder darf mit Kindern arbeiten, ob er qualifiziert ist oder nicht." Es müsse verhindert werden, dass kommerzielle Anbieter so zum "Täterparadies" werden.

Familienministerium sieht keinen Handlungsbedarf

Dabei kommen Missbrauchsfälle in Ferienlagern immer wieder vor. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber Enders geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Auch deshalb fordert sie, alle Anbieter zu verpflichten, von Betreuerinnen und Betreuern ein erweitertes Führungszeugnis zu erhalten. "Das polizeiliche Führungszeugnis bedeutet zumindest ein Zeichen: Wir setzen uns mit dem Thema auseinander. Und selbst das wird nicht eingehalten."

Während Expertinnen und Experten Handlungsbedarf sehen und fordern, dass kommerzielle Anbieter von Kinder- und Jugendfreizeiten einer Aufsicht unterliegen sollen, sieht das Bundesfamilienministerium auf Anfrage hingegen keinen Handlungsbedarf.

Ronja Bachofer, SWR, tagesschau, 13.08.2024 15:48 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 14. Februar 2024 um 11:30 Uhr.