Patriarch von Jerusalem "Niemand hat ein Monopol auf Schmerz"
Weihnachten in Israel und den palästinensischen Gebieten ist ein Weihnachten im Krieg. Der Lateinische Patriarch von Jerusalem schildert im Interview, was das für die Gläubigen bedeutet und wie das Fest trotzdem begangen werden kann.
ARD: Eminenza, wir haben uns vor einem Jahr in Gaza gesehen und nicht nur über die Situation der Christen dort gesprochen, sondern auch da schon über die schwierigen Verhältnisse. Jetzt herrscht Krieg und wir sind in der Katastrophe. Wie sehen Sie die Lage?
Pierbatista Kardinal Pizzaballa: Die Situation ist unter allen Gesichtspunkten katastrophal: humanitär, sozial, im täglichen Leben, in puncto Aussichten. Alle Christen in Gaza sind in zwei Zentren, die es noch gibt, beisammen. In der orthodoxen Kirche sind es etwa 200, in der katholischen etwa 700.
Sie haben alle keine Wohnungen mehr. Die Lebensbedingungen sind schlecht, es gibt wenig Wasser, sie leben ohne Strom. Es fallen Bomben, denn da wird gekämpft. Allein vor ein paar Tagen wurden zwei Menschen vor der Tür der Kirche umgebracht.
Die Situation ist schwierig, psychisch und emotional. Noch schwieriger und komplizierter ist die Frage, was danach kommt. Wie wird es?
"Weihnachten unter den Bomben ist kein richtiges Weihnachten"
ARD: Ja und wie wird es für die Christen in Gaza dieses Jahr sein, Weihnachten zu feiern?
Pizzaballa: Das wird ein sehr bescheidenes, sehr armes Weihnachten, voller Fragen und Angst. Aber sie werden Weihnachten begehen. Doch ein Weihnachten unter den Bomben ist kein richtiges Weihnachten.
"Was bleibt nach diesem Krieg?"
ARD: Es gibt noch eine andere Situation, die Geiseln im Gazastreifen. Sie haben sich schon früh im Krieg angeboten im Austausch für die Geiseln. Wie sehr sind Sie auch persönlich involviert?
Pizzaballa: Ich bin bereit, alles zu tun, was diesem Krieg eine andere Richtung gibt. Ich bin auch persönlich mit Gaza verbunden, ich sehe, wie dieser Krieg für eine tiefe Spaltung zwischen den Völkern hier gesorgt hat. Tiefer Hass, Verbitterung, Sehnsucht nach Rache - das alles hat nichts mit dem christlichen Glauben zu tun.
Aber das gibt es, und das muss man berücksichtigen. Ich liebe beide Völker, aber sie gehen in eine völlig entgegengesetzte Richtung. Da ist ein großer Riss, da sind große Schwierigkeiten. Wir haben Katholiken unter Bomben, und wir haben Katholiken, die ihren Militärdienst leisten.
Es ist für mich ein Aufruf, ein klares Wort aus dem Evangelium auszusprechen, Orientierung zu geben, von der Notwendigkeit zu sprechen, von der Pflicht, die Menschlichkeit zu respektieren, die Menschenwürde von allen. Auch, indem wir die Christen dazu aufrufen, sich an dieser furchtbaren Dynamik nicht zu beteiligen, in der ein Narrativ gegen das andere steht, von Hass und Missachtung. Das schließt alle Türen.
Stattdessen müssen wir neue Horizonte, neue Perspektiven eröffnen. Die große Frage ist doch, was bleibt nach diesem Krieg? Nicht nur rein physisch, sondern auch, was die religiösen, politischen und sozialen Perspektiven angeht.
"Es wird viel bescheidener"
ARD: Dieses Jahr sind auch die Feierlichkeiten in Bethlehem wieder ganz wichtig. Wie wird das dieses Jahr?
Pizzaballa: Es wird viel bescheidener. Wir tun alles, was nach der Tradition vorgesehen ist, aber weniger pompös. Es gibt keinen Weihnachtsbaum mit Lichtern, die Pfadfinder spielen nicht Dudelsack. Aber wir verzichten nicht auf die religiösen Feierlichkeiten, vor allem nicht auf das Fest für die Kinder, die haben ein Recht auf Weihnachten.
"Wir müssen das Umfeld berücksichtigen"
ARD: Vieles wurde abgesagt. Ist das richtig? Gerade in so einer Zeit, in der die Menschen ja auch Hoffnung und Freude brauchen?
Pizzaballa: Wir müssen das Umfeld berücksichtigen, in dem wir sind. Die Menschen haben das Bedürfnis zu feiern, und das werden wir bescheiden tun. Aber wir sind in einem Umfeld des Krieges und großer Schwierigkeiten. Wir sind ein Prozent der Bevölkerung. 99 Prozent feiern nicht Weihnachten. Und auch wenn die verstehen, dass Weihnachten ein großes Fest ist, müssen wir auf ihre Empfindlichkeit Rücksicht nehmen.
"Diese Nicht-Berücksichtigung des Leids des Anderen"
ARD: Was wird ihre Weihnachtsbotschaft in diesem Jahr? Ist es besonders schwierig, die Balance zu halten?
Pizzaballa: Das ist sehr schwierig. Jedes Weihnachten ist schwierig, denn alle erwarten ein neues Wort zur einem Ereignis, das immer das Gleiche ist. Was mich in diesem Moment begleitet, ist ein Satz aus dem Evangelium, da heißt es: "Es gab keinen Platz für sie". Ich glaube, das drückt unsere Wirklichkeit sehr gut aus.
Nicht nur physisch gibt es keinen Platz, wenn ich an das denke, was in Gaza passiert. Auch in der Wahrnehmung der Beziehungen, emotional. Diese Nicht-Berücksichtigung des Leids des Anderen. Ich glaube, das drückt dieser Satz sehr gut aus.
Man muss auch sagen: Es ist wahr, dass es keinen Platz für sie gab. Aber Gott hat einen Platz für sie gefunden. Damit möchte ich schließen. Gott hat ihn gefunden, über die Hirten, die Engel, durch Maria. Das ist auch ein Hinweis für uns in diesem Jahr.
"Niemand hat ein Monopol auf den Schmerz. "
ARD: Die große Mehrzahl in ihrer Gemeinde sind Palästinenserinnen und Palästinenser. Ist das auch Ihre Perspektive auf den Krieg?
Pizzaballa: Der Großteil der Christen in der Diözese ist arabisch, denn auch Jordanien gehört dazu. Palästinensisch-arabisch. Wir haben auch eine hebräische Gemeinschaft, Ausländer. Das ist ein sehr kompliziertes Bistum, mit vier verschiedenen Nationen: Jordanien, Israel, Palästina und Zypern. Das sind unterschiedliche Realitäten. Aber klar, wenn man in Bethlehem ist, spricht man zur Bevölkerung dort, die palästinensisch ist.
Wenn ich an die Diözese schreibe oder spreche, muss ich all diese Perspektiven berücksichtigen. Der Fokus liegt jetzt natürlich auf dem, was hier passiert. Man kann darüber nicht nicht sprechen, man muss den besonderen Schmerz der Palästinenser berücksichtigen. Aber auch den der Israelis.
Niemand hat ein Monopol auf den Schmerz. Das ist ein Problem, das wir haben, dass jeder denkt, sein Schmerz sei einzigartig. Aber dem ist nicht so. Das ist der Unterschied, den wir Christen machen müssen.
"Man muss Hoffnung haben"
ARD: Letzte Frage: Sie sind sehr involviert, und das bestimmt auch Ihr Leben gerade. Haben Sie noch Hoffnung, persönlich?
Pizzaballa: Ja, man muss Hoffnung haben. Ich glaube nicht, dass sich die Dinge so schnell verbessern. Hoffnung bedeutet, daran zu glauben, dass es noch Raum dafür gibt, den Menschen Gutes zu wünschen und Freundschaft zu stiften. Das ist immer noch möglich. Auch hier und trotz allem.
Das Gespräch führte Jan-Christoph Kitzler, ARD Tel Aviv. Für die schriftliche Darstellung wurde das Interview angepasst.