Der 101 Jahre alte angeklagte frühere Wachmann im KZ Sachsenhausen hält sich vor dem Gericht in Neuruppin einen blauen Schnellhefter vor das Gesicht.
Kommentar

Urteil gegen Ex-KZ-Wachmann Gerechtigkeit verlangt Wahrheit

Stand: 28.06.2022 17:58 Uhr

Bei dem Schuldspruch gegen einen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen gehe es nicht um Vergeltung, sondern um Gerechtigkeit, meint Thomas Baumann. Endlich sehe die Justiz richtig hin und arbeite die Gräuel des Nationalsozialismus auf.

Ein Kommentar von Thomas Baumann, ARD Berlin

Was am heutigen Schuldspruch zählt, ist weniger das Strafmaß. Für Verbrechen dieser Art gibt es keine angemessene Strafe. Was zählt, ist die Verurteilung an sich.

Wir sind es den Opfern der Konzentrationslager schuldig, dass die dortigen Peiniger und Beihelfer nicht unbehelligt davon kommen. Auch dann nicht, wenn diese mehr als 100 Jahre alt sind, krank und gebrechlich. Es geht nicht um Rache oder Vergeltung. Man muss Strafen nicht vollstrecken, wenn sie Greise unmenschlich hart treffen.

Zur Menschlichkeit gehört aber auch Gerechtigkeit - und die verlangt nach Wahrheit. Ans Licht zu bringen, was wirklich war. Darin liegt der Wert dieser Prozesse.

Versäumnisse in juristischer Aufarbeitung

Vielfach kamen Verfahren wie dieses zu spät oder gar nicht. Die lasche Verfolgung von NS-Verbrechen gehört zu den größten Versäumnissen der deutschen Justiz. Häufig hat sie die Aufarbeitung der Untaten verhindert, weil ihre Richter selbst Nazis gewesen waren. Was für eine Schande.

Hinzu kommt: Jahrzehntelang hat die westdeutsche Justiz für eine Verurteilung von KZ-Personal den Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung verlangt. Dabei war es doch so: die Konzentrationslager konnten ihre entsetzliche Funktionalität nur mit vielen Mitläufern entfalten. Dazu zählten auch Wachleute. In der DDR hat man die Aufarbeitung von NS-Unrecht nicht besser bewältigt - im Gegenteil: Die Stasi hat ihr Wissen über NS-Täter vielfach instrumentalisiert, ihnen für Mitarbeit Straffreiheit angeboten. Was für eine Verlogenheit.

Die gute Nachricht des heutigen Tages lautet: Sollten unter den Angeklagten in den bundesweit gerade einmal sechs Verfahren, die noch anhängig sind, NS-Täter oder Beihelfer sein, so müssen sie sich fürchten. Die deutsche Justiz schaut nämlich nicht mehr weg - endlich.

Redaktioneller Hinweis
Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin wieder und nicht die der Redaktion.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 28. Juni 2022 um 22:30 Uhr.