Ermittlungen im Fall NSU Geheimdienste außer Kontrolle
Bei den Untersuchungen zum NSU-Terror wird eine "Panne" nach der anderen bekannt. Doch immerhin zeichnet sich ab, wo genau das Problem liegt: Es handele sich nicht um eine Verschwörung einiger Bösewichte, meint Patrick Gensing. Vertuschen und Versagen seien in den Strukturen der Behörden angelegt.
Von Patrick Gensing, tagesschau.de
Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich: In einem atemberaubenden Tempo zerstören deutsche Sicherheitsbehörden das noch verbliebene Vertrauen der Bürger in ihre Fachkompetenz zum Thema Rechtsextremismus. Die Enthüllungen über die Verflechtung zwischen Sicherheitsbehörden und dem NSU-Unterstützerkreis haben das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht.
Selbst die Kanzlerin, die sich in präsidialer Art kaum zu aktuellen Themen einlässt, fordert Konsequenzen. Reichlich spät. Denn seit Monaten versuchen Untersuchungsausschüsse und Medien, das Chaos in den Sicherheitsbehörden zu durchleuchten. Eine fast unmögliche Aufgabe. Welche Akten wo vorliegen und ob diese noch existieren, ist wohl nur ansatzweise bekannt. Viele Verfassungsschutzämter führen offenkundig ein Eigenleben, abseits jeglicher effektiver demokratischer Kontrolle.
Kopfschütteln über hessischen Verfassungsschutzchef
Beispielhaft war der Auftritt des ehemaligen Direktors des hessischen Verfassungsschutzes, Irrgang, vor dem NSU-Ausschuss des Bundestags in der vergangenen Woche. Warum er einem Neonazi, der dem Verfassungsschutz Informationen verkauft hatte, keine Aussagegenehmigung für die Ermittlungen nach einem NSU-Mord in Kassel im Jahr 2006 erteilt habe, wollten die Parlamentarier wissen. Es habe sich Irrgang "nicht erschlossen", warum die Staatsanwaltschaft bei dem Verbrechen in Richtung Rechtsextremismus ermittelt habe, antwortete er den verblüfften Parlamentariern.
Der Verfassungsschutz entscheidet also darüber, was nachvollziehbare und was sinnlose Ermittlungen sein sollen. Freunde von Verschwörungstheorien werden aber enttäuscht sein: Ein Masterplan liegt den zahlreichen Versäumnissen, dem Versagen und dem Vertuschen nicht zugrunde. Dazu sind föderale Strukturen, insbesondere Behörden, gar nicht in der Lage.
Zu viele Mitarbeiter sind involviert, zu viele Eitelkeiten herrschen in den erstarrten Strukturen eines geschlossenen Systems. Kumpanei und Vetternwirtschaft? Sicher. Eine große NSU-Verschwörung? Nein. Der Inlandsgeheimdienst definiert nicht nur selbst, wen er beobachtet (die Vizepräsidentin des Bundestags, Petra Pau, beispielsweise, die rassistische Seite PI-News bislang offiziell nicht), der Verfassungsschutz entscheidet auch selbst, welche Informationen er herausgibt - und der Geheimdienst antwortet öffentlich nur auf die Fragen, die man nicht mit dem Siegel "geheim" versieht.
Strukturen begünstigen das Vertuschen
Das Vertuschen ist in den Strukturen angelegt, die V-Mann-Praxis muss fast zwangsläufig zu Skandalen führen, die dann gedeckelt werden. Denn welcher Innenminister möchte schon dafür gerade stehen, wenn ein Neonazi, der mit staatlichen Stellen Handel betreibt, kriminell wird? Es ist ja geradezu nachvollziehbar, dass der Geheimdienst seine Quelle vor Ermittlungsmaßnahmen schützt, denn wenn herauskommt, dass ein krimineller Neonazi auch V-Mann ist, steht der Verfassungsschutz schlecht da. Das ist aber noch längst nicht alles.
Rechtsextreme Gewalt wird bagatellisiert und verharmlost, bundesweit und nicht nur beim Verfassungsschutz. Opfer rechtsextremer Gewalt berichten immer wieder und übereinstimmend, sie würden nicht ernst genommen oder ihnen werde eine Mitschuld zugeschoben. Dutzende solcher Fälle sind bekannt, werden in der großen Öffentlichkeit kaum noch thematisiert.
Jüngst hat die Amadeu-Antonio-Stiftung in der Broschüre "Das Kartell der Verharmloser" einige Beispiele dokumentiert. Die Folgen der Neonazi-Gewalt und des rechtsextremen Terrors der vergangenen 20 Jahre, der mangelnde Wille zur Aufklärung und die fehlende Empathie für die Opfer haben dramatische Folgen, unmittelbar natürlich für die Opfer und Angehörigen, indirekt aber auch für die gesamte Gesellschaft.
Krise des demokratischen Rechtsstaats
"Die deutsch-türkischen Bürger in Deutschland haben kaum noch Vertrauen in die deutschen Behörden und insbesondere in Sicherheitsbehörden", erzählte mir Ilker Duyan vom Türkischen Bund Berlin Brandenburg vor wenigen Tagen. Man habe das Gefühl, vom deutschen Staat in Stich gelassen worden zu sein. Das ist nicht weniger als eine Krise für den demokratischen Rechtsstaat, der sich keine Geheimdienste wie den Verfassungsschutz mehr leisten kann. Dieser hat das Verbot der NPD behindert, die danach in zwei Landtage einzog, er hat mit Steuergeldern den Thüringer Heimatschutz groß gemacht, aus dem die NSU-Terroristen hervorgingen - und er hat komplett bei der Analyse des Rechtsterrorismus versagt.
Zum krönenden Abschluss wird nun auch noch die Aufarbeitung dieser Skandale behindert. Die Ausschüsse der demokratisch gewählten Parlamente werden düpiert, hintergangen und missachtet. Oft genug wurden mittlerweile Konsequenzen gefordert aus der Skandalserie, nun wird es Zeit zum Handeln. Die Rücktritte von vier Verfassungsschutzchefs ändern nichts an dem Grundproblem: Der Geheimdienst ist außer Kontrolle.