Atombehördenchef Kotin "Putin will unser Energiesystem zerstören"
Der Atombehördenchef Kotin ist verantwortlich für alle ukrainischen Atomkraftwerke. Im Interview wirft er Russland Folter an seinen Mitarbeitenden vor und warnt vor möglichen radioaktiven Zwischenfällen.
tagesschau.de: Herr Kotin, wie ist die aktuelle Lage im AKW Saporischschja?
Petro Kotin: Sie ändert sich stündlich. Es bleibt aber dabei, dass sich die Lage dort verschlechtert. Moskau hat sich das Atomkraftwerk Saporischschja rechtswidrig angeeignet und einen Scheindirektor ernannt, Herrn Romanenko aus Russland. Der kam in das AKW Saporischschja und jetzt werden die Mitarbeitenden dort gedrängt, Verträge mit Rosatom zu unterschreiben.
tagesschau.de: Ihre Mitarbeitenden sollen also gezwungen werden für Rosatom, die staatliche Atomaufsichtsbehörde Russlands zu arbeiten.
Kotin: Die meisten weigern sich, aber es finden sich immer Kollaborateure, die helfen. Vor zwei Wochen wurde der Direktor des AKW entführt, jetzt sein Stellvertreter.
Petro Kotin, Jahrgang 1961, hat über 15 Jahre lang in verschiedenen Funktionen im AKW Saporischschja gearbeitet. Seit Mai 2022 ist er Präsident der staatlichen Betreibergesellschaft Enerhoatom.
tagesschau.de: Es ist bekannt, dass die Mitarbeitenden unter einem enormen Druck stehen. Wie kommen Sie an Informationen und wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Kotin: Wir haben eine Hotline eingerichtet. Über die kann uns jeder aus der Stadt Enerhodar und dem AKW Saporischschja anrufen und uns Informationen geben. Wir wissen was dort passiert und wie viele Menschen entführt worden sind. Es sind rund 150 Menschen und etwa 50 sind gefangen und werden gefoltert. Es gibt auch Fälle, in denen Menschen von Russen zu Tode geprügelt worden sind.
Es gibt mehrere Arten der Folter, mit dem Ziel die Mitarbeitenden zu zwingen von Enerhoatom zu Rosatom zu wechseln. Mit dem Ziel, die größte Atomanlage der Welt zu übernehmen. Ein weiteres Ziel ist, das AKW Saporischschja als Militärbasis zu benutzen.
tagesschau.de: Auf technischer Ebene hören wir immer wieder von Zwischenfällen. Wie sieht es aktuell aus?
Kotin: Es gibt eine Verschlechterung in großem Maße. Vor der russischen Besatzung war das AKW Saporischschja das sicherste der Welt, würde ich sagen. In den sieben Monaten der Besatzung hat es dort 17 sicherheitsrelevante Zwischenfälle gegeben. Das ist eine enorme Menge. Die meisten im Zusammenhang mit Stromausfällen des Kraftwerks aufgrund beschädigter Stromleitungen, die das Werk mit dem ukrainischen Netz verbinden. Davon hat es vier gegeben.
Das bedeutet, dass es keinen Strom von außen gibt. In diesem Fall starten automatisch die Dieselgeneratoren und diese sind dann die einzige Stromquelle für die Pumpen, die die Brennstäbe kühlen. Bei einem Stromausfall müssen sie sich auf die Dieselgeneratoren verlassen. Im Moment haben die Generatoren für zehn Tage Diesel, wenn die Leitungen in das externe Stromnetz bis dahin nicht repariert sind, dann beginnt ein Countdown von zehn Tagen, bis es einen ernsten radioaktiven Zwischenfall gibt.
tagesschau.de: Als Präsident von Enerhoatom sind Sie für das AKW Saporischschja verantwortlich. Gleichzeitig ist das AKW von der russischen Armee besetzt. Technisch geben Sie zwar weiter die Anordnungen, doch die Kommunikation ist eingeschränkt und der Druck wächst Ihren Beschreibungen zufolge. Wie fühlen Sie sich damit?
Kotin: Wenn ich sage, dass ich traurig bin, wäre das eine Untertreibung. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Drei Jahre bevor ich Präsident wurde, war ich Direktor des Atomkraftwerks Saporischschja. Ich habe dort direkt nach meinem Abschluss angefangen und bin dann aufgestiegen. Ich kenne die allermeisten Leute, die dort leben. Die Mehrheit steht hinter der Ukraine, ist pro-ukrainisch. Viele waren beim Aufbau des Atomkraftwerks dabei, haben dort Karriere gemacht und ihr ganzes Leben dort verbracht. Und jetzt sind die Besatzer dort, üben Druck auf sie aus und foltern sie.
Das meine ich nicht nur körperlich, denn es ist auch eine moralische Folter, wenn jemand kommt und sagt, dass die "russische Welt" die beste ist, dass dort Russland ist, bald alle Russen sind und unter Rosatom arbeiten müssen. Das kann niemand akzeptieren. Es gibt viele Leute, die es geschafft haben rauszukommen, die Gegend zu verlassen. Gerade heute haben wir wieder gehört, dass die Stadt Enerhodar beschossen wurde und wir haben seit heute Morgen keine Verbindung mit dem Werk. Laut unseren Berichten gibt es dort schweren Beschuss. Normalerweise haben wir täglich regelmäßigen Kontakt.
Besetztes Atomkraftwerk: Ein russischer Soldat steht auf dem Gelände des AKW Saporischschja.
tagesschau.de: Wie sieht Ihr Plan aus, wenn es zu einem nuklearen Unfall kommen sollte?
Kotin: Technisch gesehen halte ich einen nuklearen Unfall im Moment nicht für wahrscheinlich. Ich mache mir eher Sorgen vor einem Austritt von Radioaktivität. Und eine radioaktive Wolke kann in jede Richtung gehen, in die der Wind weht.
Das Ausmaß einer Verstrahlung könnte davon abhängen, inwieweit Brennelemente beschädigt würden. Wenn es nur eines wäre, wäre das Ausmaß mehr oder weniger gering. Aber wenn der Reaktorkern beschädigt wäre, hätten wir einen großen Unfall und Radioaktivität in der Atmosphäre. Sie würde auch in den Boden und ins Grundwasser gehen und könnte sich in der Gegend und durch den Wind vielleicht auf der ganzen Welt verbreiten.
Laut Kotin entweicht im Moment keine Radioaktivität. In einem Notfall gäbe es spezielle Pläne. Polizei, Militär und Regierung seien hier einbezogen. Zudem gäbe es regelmäßige Übungen, auch mit den Katastrophendiensten. Ein Problem sieht er in einer Evakuierung von Menschen aus Enerhodar. Dies müsse dann wahrscheinlich mit der russischen Seite verhandelt werden. Ein Ende der russischen Besatzung, eine Sicherheitszone rund um das AKW und der Rückzug des russischen Militärs von dort, seien die einzigen Dinge, die das Problem im AKW Saporischschja lösen könnten. Aufgrund der russischen Besatzung sei dies zur Zeit das gefährlichste Atomkraftwerk der Welt.
tagesschau.de: Es hat bereits Angriffe auf das Kernkraftwerk Saporischschja und auf das Kernkraftwerk Südukraine gegeben. Rechnen Sie auch mit Drohnen- und Raketenangriffen auf weitere Atomkraftwerke im Land?
Kotin: Das ist ja schon jetzt der Fall. Man muss ein Atomkraftwerk nicht unbedingt direkt angreifen. Man kann auch Substationen attackieren, die 200 Kilometer entfernt liegen können, dort eine externe Stromleitung treffen und einen Stromausfall verursachen. Es spielt keine Rolle, wo sie eine Leitung unterbrechen. Die russische Armee greift solche Substationen mit Drohnen an.
Der letzte Stromausfall in Saporischschja war nach einem Drohnen-Angriff, der eine der Substationen beschädigt hatte. Wenn Russland so weitermacht, könnten sie all diese Substationen beschädigen. Am Ende hätten wir keine Möglichkeit mehr, Strom aus dem externen Netz in die Atomkraftwerke einzuspeisen. Die Stromleitungen verlaufen zwischen den Substationen und den Atomkraftwerken. Sie müssen das also nur zerstören - und damit wurde bereits begonnen.
Das russisch besetzte AKW Saporischschja liefert bis zu 20 Prozent des Strombedarfs der gesamten Ukraine. Es gibt drei weitere Atomkraftwerke die im ukrainisch kontrollierten Gebiet liegen: Rivne, Südukraine und Chmelnyzkyj. Dass Russland Saporischschja an das russische Netz anschließen will, hält Petro Kotin im Moment nicht für denkbar. Das wäre schon in friedlichen Zeiten ein langer und komplizierter Prozess.
tagesschau.de: Als der russische Angriffskrieg am 24. Februar begonnen hat, war die Ukraine gerade an das europäische Stromnetz angebunden worden, weg vom russischen Netz. Welche Rolle hat das Thema Energie Ihrer Ansicht nach bei dem Angriff gespielt?
Kotin: Das war eine interessante Situation. Wir waren gerade vier Stunden weg vom russischen Stromnetz, als der Krieg begonnen hat. Gegen ein Uhr nachts hatte mich der Dispatcher angerufen und mir mitgeteilt, dass wir vom russischen Netz abgekoppelt sind und einige Stunden später bin ich von den Explosionen hier in Kiew aufgewacht, als sie angefangen haben Boryspil zu beschießen. Es ist wirklich ein Wunder, dass wir nur Stunden zuvor vom russischen Netz ins europäische System gewechselt sind. Am 17. März haben Präsident Selensykj und Energieminister Galuschenko in Verhandlungen mit der EU erreicht, dass das so bleibt. Ohne den Krieg wären wir vielleicht noch immer nicht im europäischen Stromnetz.
Mit der russischen Seite war zu diesem Zeitpunkt eine Art Testlauf im europäischen Netz für drei Tage vereinbart. Dann sollte die Ukraine wieder an das russische Stromnetz angeschlossen und die Daten der Testphase analysiert werden. Die Ergebnisse sollten dann an die EU gehen.
Russland sagte: Okay, macht das so. Denn sie dachten, sie würden Kiew einnehmen und dann alles wieder anschließen. Für den Moment könne die Ukraine machen, was sie möchte. Und dann kam es anders. Wir waren schon vom russischen Netz abgekoppelt und die Russen nahmen einen langen Anlauf auf Kiew und versagten. Sie haben also einen großen Fehler gemacht, indem sie der Ukraine das Abkoppeln vom Stromnetz erlaubten und verloren so das gesamte ukrainische Stromsystem.
Und hier gibt es noch ein psychologisches Moment. Putin schmerzt, dass es so gelaufen ist und jetzt versucht er, dass Energiesystem zu zerstören, das ihm nicht mehr gehört. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, auch was das AKW Saporischschja angeht. Das ist fast heilig für ihn. Ein Objekt, das er will, genau wie das ukrainische Energiesystem. Er macht das, wenn er etwas nicht besitzen kann.
tagesschau.de: Nochmal zurück zum AKW Saporischschja. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde Rafael Grossi ist sehr aktiv. Er war zweimal hier in Kiew. Er war in Moskau und fordert eine nukleare Sicherheitszone um das AKW. Glauben Sie daran?
Kotin: Wir hoffen sehr, dass er erfolgreich ist. Es ist sehr wichtig, eine solche Sicherheitszone einzurichten und das AKW zu entmilitarisieren. Wenn Herr Grossi das erreicht, würde das nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Welt sehr anerkennen. Im Moment halte ich die Chancen, dass das klappt, allerdings für gering.
Das Interview führten Andrea Beer und Vassili Golod, zzt. in Kiew.