Birthler stoppt Auslieferung von Stasi-Akten
Stand: 12.03.2008 09:30 UhrNach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom vergangenen Freitag hat die Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler, am Dienstag die Behörde für Publikumsverkehr und diverse Ausstellungen zur Stasivergangenheit geschlossen. Birthler will zunächst überprüfen, welche Akten und Informationen nach dem Urteil noch herausgegeben werden dürfen. Bundeskanzler Gerhard Schröder und andere Politiker aller Parteien denken derweil schon über eine Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes nach. Normalerweise ist das Stasi-Dokumentationszentrum in Berlin von 10-18 Uhr geöffnet, bei freiem Eintritt. Doch seit heute ist das anders. Wer wissen will, wie die Stasi bespitzelt und belauscht hat, der steht vor verschlossenen Türen. Einstweilen. Alles musste bearbeitet werden, geändert, geschwärzt, so auch im Internet. Folgen eines Urteils. Folgen der Lex-Kohl. Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen: "Das Problem ist, dass von dem Opferschutz, den Kohl für sich durchgesetzt hat, nun auch Leute profitieren können, die man auch bei großzügigster Auslegung dieses Begriffes, nicht als Opfer bezeichnen kann." Heute Abend im preußischen Landtag: Treffen der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur. Geburtstagsfeier zum zehnjährigen Bestehen. Ein Erregungsthema beherrscht die Diskussionen. Entsetzten über das Urteil vom Freitag. Warum? Manfred Wilke, Historiker FU Berlin: "Aus dem einfachen Grund, weil es ein Signal ist. Das in die falsche Richtung geht. Und uns alle, die wir seit zwölf Jahren uns bemühen diese Arbeit als Historiker, als Politikwissenschaftler und als Publizisten zu tun, dass wir sozusagen unrechtmäßig die Ergebnisse unserer Forschung erarbeitet haben und vorgelegt haben." Altkanzler Kohl hat erreicht, dass seine Stasi-Akte für immer im Giftschrank bleibt. Und der amtierende Kanzler fordert ein grundsätzliches Umdenken im Umgang mit dem politischen Erbe der DDR. Das ärgert zum Beispiel die Grünen. Cem Özdemir, innenpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen: "Im Windschatten von Helmut Kohl dürfen nicht diejenigen, die doch schlimmes zu verantworten haben, jetzt quasi Jubeln. Wir wollen das Gesetz novellieren, damit zukünftig auch sichergestellt werden kann, dass die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit weitergeht." Eine Neufassung des allzu vagen Stasi-Unterlagen-Gesetzes und damit die Neuregelung des Umgangs mit den Akten der Birthler-Behörde scheinen unumgänglich. Das sieht auch die Union. Wolfgang Bosbach, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: "Man kann nicht unterscheiden zwischen Personen, die prominent sind und die es nicht sind, zwischen Ost und West. Sondern das entscheidende Kriterium muss sein: War jemand Opfer von Stasi-Machenschaften, beispielsweise weil er illegal abgehört wurde, oder war er selbst Täter." Ostdeutsche Politiker haben ein ganz besonderes Verhältnis zu diesen Unterlagen. Je nach Couleur. Markus Meckel, SPD-Bundestagsfraktion: "Wir habe die Situation, dass eben nicht nur Politiker im Westen sagen können, meine Akten bleiben verschlossen, sondern eben auch DDR-Funktionäre, sofern sie nicht unmittelbar mit der Staatssicherheit zusammen gearbeitet haben. Deshalb brauchen wir dringend eine Novellierung und Klarstellung." Roland Claus, Vorsitzender der PDS-Fraktion: "Ich will für uns jetzt nicht in erster Linie jetzt die Novellierungskompetenz in Anspruch nehmen." Bis zu einer Novellierung des Gesetzes werden Monate vergehen. Zunächst einmal ist für Ende April eine Expertenanhörung anberaumt. Ulrich Wickert: "Wer einmal Jura studiert hat, der hat gelernt, dass jeder Satz so oder auch so ausgelegt werden kann. Es kommt immer nur auf die Begründung an. Und das trifft auch auf das zu, was der Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Umgang mit den Stasi-Akten sagte. Er meint, wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung könnte es nicht angehen, dass ein im Osten aufgewachsener im Zweifel belegen muss, dass er kein Täter war und der geborene Westdeutsche in diesem Rahmen immer nur Opfer war. Tatsächlich ist es nicht gerecht, wenn alle gleich behandelt werden?" Ulrich Wickert sprach mit Joachim Gauck, dem früheren Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, über die Notwendigkeit einer Gesetzesnovellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Ulrich Wickert: "Ist Schröders Satz nicht gerecht?" Joachim Gauck, früherer Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde: "Ich weiß nicht. Man muss sich dabei klar machen, dass etwa ein Prozent der Ostdeutschen mit der Stasi als IM zusammengearbeitet haben, dann sind jawohl 99 Prozent der Ossis nicht stasigefährdet und denen schadet die Untersuchung nichts. Zudem hat der Osten vor der Einheit, die Volkskammer, mit allen Fraktionen gesagt: Wir brauchen einen vertrauenswürdigen öffentlichen Dienst. Also ich weiß nicht, ob man hier nicht des Guten etwas zuviel tut." Ulrich Wickert: "Wenn sie sagen, des Guten etwas zuviel: Warum?" Joachim Gauck: "Ich denke, da ist ein politisches Kalkül dahinter. Vielleicht geht es ihm darum, aus dem Lager der PDS stimmen abzurufen. Das kann man ja verstehen im Wahlkampf. Aber ich glaube, viele seiner ostdeutschen SPD-Abgeordneten und andere Mitglieder werden ihn daran erinnern, dass es wohl schwierig ist, aus dem PDS-Lager mit diesen Worten Stimmen herauszuholen. Vielleicht gehen anderer Wähler dann weg von der SPD. Und das wäre ja auch nicht wünschenswert. So, dass sicher hier rüber noch einmal ganz ruhig geschlafen wird. Und dann wird sicher in Erinnerung kommen, dass wir etwas großartiges gemacht haben, damals im deutschen Bundestag mit dem Stasi-Unterlagengesetz und der historischen, politischen und juristische Aufarbeitung der Vergangenheit. Ulrich Wickert: "Nun wird darüber geredet, dass Stasi-Unterlagengesetz zu ändern. Worauf muss man dann achten?" Joachim Gauck: "Ja, es wird darum gehen, den Zugang von Medien und Forschern nicht über Gebühr zu verbauen. Jetzt nach dem Richterspruch, nach dem Spruch des Gerichtes in Berlin, werden hinter dem breiten Rücken von Helmut Kohl viele DDR-Offizielle über die wir jetzt Auskünfte geben konnten, weil sie Personen der Zeitgeschichte waren, sie werden auch sagen: Nein, also wir wünschen das nicht. Und die Bundesbeauftragte überprüft gerade die Ausstellungszentren, ob dort nicht auch Offizielle mit auf den Tafel sind. Etwas schwierig und schwierig auch deshalb, weil viele Informationen, die die Bundesbeauftragte zur Zeit nicht herausgeben kann, über solche Personen, etwa aus dem Parteiarchiv durchaus herausgeholt werden können. Also hier haben die deutschen Abgeordneten im Bundestag noch eine Menge Beratungsbedarf. Und ich hoffe, dass es diese Koalition der Vernunft zu diesem Thema auch diesmal wieder geben wird, wenn es an eine Novellierung gehen sollte." Ulrich Wickert: "Nun fragt ich manch einer, ob nicht irgend wann einmal Schluss sein müsste. Wie könnte das Aussehen?" Joachim Gauck: "Es gibt ja schon "Schluss". Zum Beispiel Schluss ist mit den Verfahren vor Gericht. Da gibt es Verjährungsfristen - erster Schlussstrich. Zweiter Schlussstrich: Die Überprüfungen, darauf zielte Schröder ja ab, sind zeitlich zu begrenzen. Das hat der Gesetzgeber schon getan. Das darf sowieso nur 15 Jahre stattfinden. Also in drei Jahren etwa ist das sowieso aus. Das wäre der zweite Schlussstrich. Aber ein Schlussstrich unter eine Diktatur zu ziehen und die Unterlagen nicht ganz breit der Forschung und auch jedem einzelnen Opfer zur Verfügung zu stellen, dass wäre ja nun ein zweites Mal eine Verabredung zum selektiven Erinnern, zum Schlussstrich. Und wir wissen aus der Nachkriegszeit: Schlussstrich funktioniert nicht. In Deutschland jedenfalls nicht.
