Oleg Orlow
interview

Menschenrechtler Oleg Orlow "Die russische Zivilgesellschaft ist immer noch am Leben"

Stand: 06.09.2024 07:45 Uhr

Seit vier Wochen befindet sich der russische Menschenrechtler Oleg Orlow in Deutschland - frei kam er im Zuge des Gefangenenaustausches. Wie sieht er auf sein neues Leben - und wie auf die Arbeit der Opposition in Russland?

tagesschau.de: Sie mussten am 1. August innerhalb weniger Stunden ihr Land verlassen, ohne Aussicht auf baldige Rückkehr. Wie bringt man die Erleichterung, die man wahrscheinlich spürt, mit dem Schmerz der Ausweisung zusammen - und mit dem Wissen um das Schicksal derer, die zurückbleiben?

Oleg Orlow: Sie haben meine Gefühle, die ich damals empfand und jetzt immer noch empfinde, ziemlich genau umrissen. Es war auf der einen Seite ein unerwartetes, geradezu betäubendes Gefühl von Freiheit - und auf der anderen Seite ein sehr bitteres Gefühl, aus dem gitterlosen Fenster zu schauen und zu wissen, dass ich meine Heimatstadt Moskau sehr lange nicht mehr sehen werde.

Als wir im Bus saßen, wussten wir schon, dass es sich um einen Gefangenenaustausch handelt. Wir wussten da auch, wer ausgetauscht wird - und wer nicht dabei ist. Natürlich haben wir uns gefragt, warum wir jetzt dabei sind und nicht die anderen? Warum nicht Igor Baryschnikow oder Alexej Gorinow? Wir wurden nicht gefragt und hatten keine Wahl.

Ich war sehr glücklich, dass in der Reihe vor mir Alexandra Skotschilenko saß, deren Gesundheit im Gefängnis ruiniert wurde. Ein paar Reihen vor mir sah ich Wladimir Kara-Mursa. Er sah sehr schlecht, sehr mager aus - aber er war am Leben.

Ich denke oft an die anderen politischen Gefangenen. Wir sitzen jetzt hier, haben diese wunderbare Aussicht aus dem Fenster auf den Hamburger Hafen, und sie sind nach wie vor im Gefängnis, und ich weiß, was sie sehen, wenn sie aus dem Fenster sehen. Das ist bitter.

Oleg Orlow
Zur Person

Oleg Orlow ist Mitbegründer der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 gemeinsam mit Organisationen aus Belarus und der Ukraine mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Der studierte Biologe setzt sich seit den 1970er-Jahren für die Aufarbeitung der Verbrechen der Stalin-Zeit und von Verstößen gegen die Menschenrechte in seinem Land ein. Er protestierte gegen die Kriege der Sowjetunion und Russlands und wurde im Februar 2024 wegen "Diskreditierung der russischen Armee" zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Im August wurde er im Rahmen eines Gefangenenaustausches aus der Haft entlassen und aus Russland ausgewiesen. Das Gespräch mit ihm kam im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung der Körber-Stiftung in Hamburg zustande.

"Meine Freunde führen ihre Arbeit fort"

tagesschau.de: Sie sind immer Ihren Überzeugungen gefolgt und ich kann mir vorstellen, dass die Umstände Ihres Austausches für Sie erst recht einen Ansporn darstellen, sich weiter zu engagieren und einzumischen. Was können Sie von Deutschland aus für die Arbeit von Memorial tun und wie geht diese Arbeit unter dem extremen politischen Druck in Russland weiter?

Orlow: Die russische Zivilgesellschaft ist immer noch am Leben. Meine Freunde und Kollegen führen ihre Arbeit fort, sowohl bei Memorial als auch bei anderen Organisationen. Manche machen das halb im Untergrund, andere ganz. Sie verstehen, dass ich von hier aus dazu nicht viel sagen kann - dazu habe ich nicht das Recht.

Aber meine Freunde und Kollegen von Memorial führen auch jetzt noch Exkursionen durch Moskau an Orte politischer Repressionen in der sowjetischen Zeit. Sie unterstützen weiter von Russland aus und von außerhalb politische Häftlinge. Das wurde auch mir zuteil, als ich im Gefängnis saß. Wir bekamen zum Beispiel Päckchen mit Lebensmitteln von ihnen. Das ist sehr wichtig für Gefangene. Wir bekamen Briefe aus der Freiheit oder auch Unterstützung von Rechtsanwälten, was ebenfalls sehr wichtig ist.

Darüber hinaus sammeln und verbreiten Memorial und andere Organisationen zum Beispiel über Telegram und andere soziale Medien permanent Nachrichten über die Lage der Menschenrechte und der politischen Gefangenen in Russland. Wir geben Rechtsbeistand für Menschen, die beispielsweise Folter erlitten haben, nicht nur in politischen Prozessen, sondern auch in anderen Strafprozessen. Und wir helfen Migranten oder Menschen, die beispielsweise aus dem Gebiet Kursk flüchten mussten.

Warum es so wenig Protest in Russland gibt

tagesschau.de: Und dennoch ist es insgesamt eine verhältnismäßig kleine Gruppe, die Widerstand gegen die Repression in Russland leistet. Wie erklären Sie sich, dass sich nicht mehr Menschen dagegen wehren?

Orlow: Jeglicher Widerstand führt dazu, dass man seine Freiheit verlieren kann - oder zumindest die Arbeitsstelle. Wenn man allein den Namen Nawalny positiv erwähnt und sagt, dass er kein Terrorist war und zu Unrecht verurteilt wurde, wird man der Teilnahme an einer terroristischen Vereinigung angeklagt.

In meiner Zelle saß ein Mann, der genau auf Basis dieses Paragraphen verurteilt worden war. Er hatte Flugblätter aufgeklebt und verteilt, in denen er geschrieben hatte, dass das Urteil gegen Nawalny zu Unrecht verhängt wurde, dass es dafür keine rechtliche Grundlage gab, es der Verfassung widerspricht. Und er nannte auch den Namen des Richters, der dieses Urteil verhängt hatte. Dafür erhielt er eine Gefängnisstrafe von sieben Jahren.

Und jetzt können alle ihre Leserinnen und Leser für sich abwägen, ob sie bereit wären, unter solchen Bedingungen zu protestieren und Widerstand zu leisten. Da finden Sie die Antwort, warum es so wenig Protest in Russland gibt. Und trotzdem gibt es auch unter solchen Bedingungen Widerstand.

Die Wirkung von Hasspropaganda

tagesschau.de: Im staatlich kontrollierten Fernsehen laufen allabendlich Talkshows, in denen sich eine Verrohung zeigt, die einem den Atem raubt. Wie wirkt das auf die Gesellschaft? Hinterlässt es Spuren, schauen die Leute gar nicht mehr hin oder stumpft das ab?

Orlow: Natürlich hat das eine Auswirkung. Es vergiftet die Gesellschaft zumindest in Teilen, wenn man täglich die Hasspropaganda gegen die Ukraine erlebt, gegen die sogenannte fünfte Kolonne, womit jegliche Art Andersdenkende gemeint sind, gegen den Westen, gegen jegliche Abweichung von der Wahrnehmung der Realität, die die Regierung hat.

Aber soziologische Umfragen, zu denen man sich auch sehr kritisch und vorsichtig verhalten muss, zeigen dennoch, dass eine Mehrheit der russischen Gesellschaft für ein Ende des Krieges auf Grundlage von friedlichen Verhandlungen ist.

"Zivilgesellschaft und Opposition müssen sich etwas überlegen"

tagesschau.de: Sie haben einmal gesagt, dass Sie mit einem Zusammenbruch des Putin'schen Systems in den kommenden zehn Jahren rechnen. Worauf begründet sich diese Einschätzung?

Orlow: Ich erwarte nicht unbedingt einen Zusammenbruch des Regimes, aber ich erwarte sein Ende. Da ist zum einen die biologische Wahrheit. Schauen Sie sich das Alter von Putin an. Er wird in den kommenden Jahren unausweichlich die Kontrolle verlieren, auch über die "Silowiki", die Sicherheitsorgane. Und je älter ein solcher Diktator wird, umso mehr denkt seine Umgebung darüber nach, was nach ihm kommt. Und je mehr sie darüber nachdenken, umso geringer wird sein Einfluss auf sie.

Zweitens ist es so, dass die Wirtschaft Russlands zwar offensichtlich sehr viel widerstandsfähiger ist, als viele erwartet hatten. Und trotzdem befindet sich auch die Wirtschaft in einer Sackgasse. Auch wenn der Prozess des langsamen Niedergangs noch einige Jahre dauern wird, führt er dazu, dass selbst die Menschen in Putins näherer Umgebung langsam verstehen, dass etwas getan werden muss. Auch die Bevölkerung spürt das immer mehr.

Und deswegen denke ich, dass es noch maximal zehn Jahre so weitergehen kann. Und danach kommt entweder ein Zusammenbruch, wie Sie sagen, oder das Regime verfault langsam von innen und die Eliten werden etwas unternehmen. Und bis dahin müssen sich die Zivilgesellschaft und die Opposition in Russland und im Exil überlegen, was danach geschehen kann.

Entwicklung einer "Roadmap"

tagesschau.de: Wird es dann noch repressiver? Oder vielleicht erst mal vor allem chaotischer? Oder kann ein neuer Geist entstehen, der das Land zum Besseren entwickelt?

Orlow: Alles von dem, was Sie genannt haben, ist möglich. Was ich mir vorstellen kann, ist: Immer, wenn eine Ära eines Diktators zu Ende geht, fangen die sogenannten Eliten um ihn herum an, ein Verständnis zu entwickeln, dass es in dem Land Reformen geben muss. Sie können sogar darum konkurrieren, wer diese Reformen durchführen wird. Und dann kommt der Zivilgesellschaft und der Opposition im Exil die wichtigste Rolle zu. Sie müssen dann Druck ausüben, dass es zu echten Reformen und nicht nur zu Kosmetik kommt.

Während ich im Gefängnis war, haben meine Freunde und Kollegen - nicht nur von Memorial - aktiv daran gearbeitet. Sie entwickeln eine Art Roadmap - die Reform des Gerichtssystems, des Strafvollzugssystems, die Reform der inneren Verwaltung. Wie können politische Gefangene befreit werden?

"Ich frage mich, wann die Menschen endlich aufwachen"

tagesschau.de: Jetzt sind Sie in ein Land gekommen, in dem teilweise erbittert über den Umgang mit Russland, mit Putin gestritten wird, über den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Es ist ein Thema, das auch den Ausgang von Landtagswahlen beeinflusst und insofern erhebliche Auswirkungen hat. Wie wirkt das auf Sie?

Orlow: Es ist nicht an mir, zu beurteilen, wie in Deutschland Wahlen ablaufen, und was ich zu sagen habe, ist ausschließlich meine persönliche Ansicht, nicht die von Memorial oder einer anderen Organisation.

Ich kann nur von der Seite auf diese Vorgänge schauen und mich wundern. Darüber, wie sehr Menschen nicht der Wahrheit ins Auge sehen wollen und wie wenig Menschen aus der Geschichte lernen. 1939 war der Aggressor Deutschland. Und Deutschland hatte mit Stalin einen Pakt geschlossen, der zwei Wochen nach dem deutschen Angriff auf Westpolen zum Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen führte. Deutschland und Russland hatten Europa insgeheim in Interessensphären aufgeteilt.

Damals haben Politiker wie der britische Premierminister Neville Chamberlain gesagt, wenn wir miteinander reden, dann werden wir Europa zu einem langfristigen Frieden und zu Wohlstand bringen. Das Ganze hat nicht funktioniert.

Jetzt hören wir das Gleiche von deutschen Politikern, von deutschen Wählern. Ich frage mich, wann die Menschen endlich aufwachen. Wir erinnern uns, wie das Ganze damals endete: Das Münchener Abkommen hat nicht zu Frieden geführt, sondern zu einem schrecklichen Krieg in Europa. Ich will kein Unheil heraufbeschwören, aber ich fürchte, dass es auch im 21. Jahrhundert dazu kommen kann, dass diese Unfähigkeit, diesen Konflikt zu lösen, zu einem schlimmen Krieg führen kann.

"Alle waren glücklich, dass sie billiges Gas bekommen haben"

tagesschau.de: Was wäre für die deutsche Politik denn jetzt der richtige Umgang mit Putin und dem Krieg gegen die Ukraine?

Orlow: Auch hier ist meine Antwort eine rein persönliche: Auf jeden Fall sollte sie nicht so mit Putin umgehen wie es die deutschen Politiker mit ihm in den ersten zehn Jahren seiner Herrschaft getan haben, also zwischen 2000 und 2010. Damals wurde kein realer Druck ausgeübt, obwohl in Russland schon damals die politische Repression immer mehr anstieg, sich das Land immer mehr in ein totalitäres Land verwandelte und es schon 2008 den Konflikt zwischen Russland und Georgien gab.

Man hat Putin dann immer ein bisschen mit dem Finger gedroht und am Ende waren alle glücklich, dass sie billiges Gas bekamen. Es musste erst zu der Katastrophe des Jahres 2022 kommen, damit der Westen zumindest anfing, wirklich Schritte zu unternehmen und die Werte zu verteidigen, die er vor sich herträgt: Menschenrechte, Demokratie. Dass es nicht erlaubt ist, zwischenstaatliche Probleme mithilfe von Aggressionen und Krieg zu lösen.

Als dann aber klar wurde, dass man für die Verteidigung seiner Werte auch einen gewissen Preis zahlen muss, sagten auf einmal viele: Das wollen wir eigentlich gar nicht. Aber man muss als Volk und als Politiker konsequent handeln und bereit sein, für seine Werte einzustehen und einen gewissen Preis zu zahlen. Denn sonst wird auch Europa nach Russland diese Werte verlieren.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de.