Interview zu 20 Jahren EU-Binnenmarkt Wirtschaftsforscher bewertet Maastricht kritisch
Vor 20 Jahren wurde mit dem Vertrag von Maastricht der größte gemeinsame Markt der Welt geschaffen: Der EU-Binnenmarkt. Neben zahlreichen Errungenschaften habe der Vertrag "die Probleme eingebrockt, die wir seit 2008 auslöffeln mussten", sagt Wirtschaftsforscher Abelshauser im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Welche Hoffnungen wurden denn damals mit dem europäischen Binnenmarkt verbunden, und was ist auch wirklich eingetroffen?
Werner Abelshauser: Das Ziel war natürlich die politische Einheit, also die politische Union am Ende des Binnenmarktes zu sehen. Das war aber damals wie heute nicht konsensfähig. Deswegen hat man versucht einen Trick anzuwenden, nämlich wirtschaftliche Sachzwänge, um damit auch die politische Einheit am Souverän vorbei zu erzwingen. Das ist gescheitert, insbesondere in der Verfassungsfrage: 2007 wurde die Verfassung abgelehnt und der Vertrag von Lissabon trat an die Stelle. Das bedeutet, dass wir heute in einer Vertragsgemeinschaft souveräner Staaten leben, die Herren der Verträge bleiben wollen, und nicht in einer supranationalen Union.
tagesschau.de: Was sind denn die größten Errungenschaften des Binnenmarktes?
Abelshauser: Wir haben einen großen Markt, der es beispielsweise erlaubt, in großen Serien zu produzieren. Gerade für eine Nation wie die deutsche, die am Weltmarkt operiert, ist das eine Grundlage, die die Wettbewerbsfähigkeit stärkt. Das alles sind selbstverständlich große Errungenschaften. Allerdings waren diese zum großen Teil schon erreicht, bevor der Vertrag von Maastricht vor 20 Jahren unterzeichnet wurde. Der Vertrag von Maastricht hat dann diesen Binnenmarkt vollenden wollen. Das heißt, er zielte ab auf die Liberalisierung des Kapitalmarktes. Und das hat uns die Probleme eingebrockt, die wir seit 2008 auslöffeln mussten.
tagesschau.de: Wo liegen denn Ihrer Ansicht nach die größten Herausforderungen bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb der EU? Und wo gibt es noch ungenutztes Potential?
Abelshauser: Das Problem mit dem Binnenmarkt ist, dass in Europa mehrere Wirtschaftskulturen nebeneinander existieren. Anders als in den USA haben wir also keinen einheitlichen Binnenmarkt. Es kommt nun darauf an, dass die europäische Politik die Stärke dieser Wirtschaftskulturen identifiziert und dann mit einer geeigneten Politik fördert. Es geht nicht darum, diese gleichzumachen, also alles zu harmonisieren. Das bekommt keiner dieser Wirtschaftskulturen gut.
tagesschau.de: Einige EU-Parlamentarier halten eine neue Fokussierung des Binnenmarktes für notwendig. Nicht die Märkte sondern die Menschen müssen in den Mittelpunkt gestellt werden. Wie wichtig ist das Ihrer Meinung nach?
Abelshauser: Das ist ja bereits mit dem Schengener Abkommen begonnen worden. Und man könnte das fortführen auf vielen Gebieten. Aber da liegt natürlich die größte Herausforderung. Wir haben nach 50 Jahren Integrationspolitik immer noch keine gemeinsame Öffentlichkeit in Europa. Wir haben sozusagen noch keine gemeinsamen politischen oder kulturellen Märkte. Hier müsste verstärkt angesetzt werden. Ich selber habe ja diese 50 Jahre erlebt. Ich war ein begeisterter Anhänger der Europa-Idee. Und ich muss sagen, dass sich insbesondere das Verhältnis zu Frankreich sehr enttäuschend entwickelt hat: Es gibt kaum Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Öffentlichkeiten.
Das Gespräch führte Ina Böttcher, tageschau24.