Menschen sitzen in einem Großraumbüro an Schreibtischen und arbeiten.
interview

Experte zu 35-Stunde-Woche "Selbstbestimmte Arbeitszeit ist überall möglich"

Stand: 27.03.2024 15:16 Uhr

Für Beschäftigte bei der Bahn kommt die 35-Stunden-Woche. Ein Konzept für den ganzen deutschen Arbeitsmarkt? Nein, sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung im Interview mit tagesschau24. Stattdessen müsse das zur persönlichen Wahl werden.

tagesschau24: Herr Weber, sollte die 35-Stunden- oder Vier-Tage-Woche generell und überall eingeführt werden?

Enzo Weber: Von generell und überall würde ich definitiv abraten. Viele Menschen möchten das einfach nicht. Es gibt Beschäftigte, die vier Tage arbeiten wollen - aber viele eben auch nicht. Das ändert sich auch im Lebensverlauf.

Dementsprechend rate ich zu mehr Selbstbestimmung: Wer die vier Tage haben möchte, der soll sie bekommen können und wer fünf Tage haben möchte, der soll sie auch bekommen. Also am Ende eine "X-Tage-Woche": die Wahlarbeitszeit. Das würde ich für sinnvoll halten. Und der Tarifabschluss bei der Bahn geht in diese Richtung.

tagesschau24: Ist denn dann ein solches Optionsmodell aus Ihrer Sicht eine Möglichkeit für alle Branchen oder gibt es Ausnahmen?

Weber: Ich würde sagen, diese Art von selbstbestimmter Arbeitszeit ist grundsätzlich überall möglich. Genau das wird heute verlangt - die Möglichkeit, die Arbeitszeit selbst in die Hand zu nehmen. Wichtig ist: Wenn alle individuell arbeiten, muss auch alles vernünftig organisiert werden. Und da würde ich dazu raten, dass ein Team wirklich gemeinschaftlich organisiert - dass Kolleginnen und Kollegen untereinander absprechen, wie man zusammenarbeiten möchte. Das bringt Motivation und Identifikation mit der eigenen Arbeit.

Enzo Weber, Institut für Arbeitsmarkt, zur 35-Stunden-Woche

tagesschau24, 27.03.2024 09:00 Uhr

Eine Entscheidung jedes Einzelnen?

tagesschau24: Derzeit herrscht aber ein spürbarer Fachkräftemangel in Deutschland. Verschärft der sich nicht, wenn zu wenig Beschäftigte da sind und die dann noch weniger arbeiten?

Weber: Ich würde nicht grundsätzlich davon ausgehen - wie jetzt am Beispiel der Bahn - dass alle Beschäftigten auf 35 Stunden reduzieren möchten. Unsere Erhebungen zeigen: Ja, manche Arbeitnehmer möchten das. Doch Vollzeitbeschäftigte wollen teilweise auch mehr als 40 Stunden arbeiten und viele sind irgendwo im mittleren Bereich.

Grundsätzlich sollten wir uns Gedanken über die Frage machen: Wollen wir die Zahl der Arbeitsstunden maximieren, um möglichst viel materiellen Wohlstand zu haben? Oder weniger Arbeitsstunden und mehr private Zeit? Und sollten wir diese Abwägung zwischen Zeit und materiellem Wohlstand nicht jedem selbst überlassen? Das würde ich für viel sinnvoller halten.

tagesschau24: Aber wenn wir von materiellem Wohlstand reden, dann reden wir doch auch von einem allgemeinen Wohlstand für Deutschland, oder?

Weber: Das ist richtig. Aber Deutschland setzt sich aus allen Menschen, die in diesem Land leben, zusammen. Es kann keine Entscheidung getroffen werden, dass alle mehr arbeiten müssen oder umgekehrt. Wir sollten die Hürden senken, damit Menschen Jobs mit ihrem Leben möglichst gut in Übereinstimmung bringen können. Damit sie gerne und dadurch wirklich produktiv arbeiten.

Weniger Arbeit bedeutet weniger Wirtschaftsleistung

tagesschau24: Aber nicht jeder Arbeitnehmende würde doch ein Pensum von 40 Stunden in 35 Stunden schaffen?

Weber: Richtig. Wir können nicht davon ausgehen, dass, wenn wir weniger arbeiten so gut gelaunt sind, dass wir trotzdem genauso viel schaffen. Wenn man weniger arbeitet, hat man am Ende auch weniger Wirtschaftsleistung zur Verfügung. Doch wir müssen gesellschaftlich entscheiden: Was soll das Optimum sein? Allerdings kann niemand entscheiden, was für jeden einzelnen Menschen optimal ist. Dementsprechend müssen wir die Wahl den Menschen überlassen.

Und übrigens: Wenn Männer ihre Arbeitszeit ein bisschen zurückschrauben würden, dann könnten Frauen in der Familienarbeit vielleicht so viel zusätzliche Unterstützung bekommen, dass ein "Abknicken" der beruflichen Entwicklung von Frauen wie zur Zeit nicht mehr stattfinden würde. Da ist sogar noch richtig was zu gewinnen.

tagesschau24: In den USA heißt es häufig: "Wir leben um zu arbeiten und Europäer arbeiten, um zu leben." Könnte das vielleicht ein Grund sein, warum die Wirtschaft in den USA so viel besser dasteht als die in der EU?

Weber: Das ist ein uraltes Klischee - da bin ich mal zurückhaltend. Aber wir sollten in der Tat dafür sorgen, dass Menschen wieder richtig Lust haben auf Arbeit. Denn das Engagement im Job und die Identifikation mit dem Betrieb ist durchaus gesunken, schon vor der Corona-Pandemie. Da sollten wir wieder gegensteuern. Denn man verbringt so viel Lebenszeit mit der Arbeit, dass Bedingungen geschaffen werden sollten, damit Arbeitnehmende wirklich Lust auf den Job haben und das Bestmögliche schaffen. So können wir auch mit dem demografischen Wandel umgehen.

tagesschau24: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Weber.

Das Interview wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 27. März 2024 um 09:00 Uhr.