Alternative Ratings in der Finanzkrise "Der Entschuldungswillen aller bestimmt die Bonität"
Die Rating-Agenturen stehen seit Monaten in der Kritik. Der Wissenschaftler Alexander Dill sagt gegenüber tagesschau.de, die Ratings seien ohnehin wenig aussagekräftig, da soziale Parameter fehlen. Deutschland stehe beispielsweise längst nicht so gut da, wie die Agenturen meinen.
tagesschau.de: Ihr Institut erstellt ebenfalls Ratings. Inwiefern unterscheidet sich ihr Ansatz dabei von dem der großen amerikanischen Agenturen?
Alexander Dill: Der Hauptunterschied ist, dass die großen Agenturen mit Daten arbeiten, die sie zum Beispiel von der europäischen Statistikbehörde Eurostat bekommen. Also Angaben über das Bruttosozialprodukt, die Wachstumsrate, Staatseinnahmen und -ausgaben. Demgegenüber bewerten wir zusätzlich, ob in der Gesellschaft eines Landes überhaupt eine Bereitschaft vorhanden ist, Schulden zu tilgen.
Wir gehen davon aus, dass die Bonität eines Staates in erster Linie davon abhängt, ob seine Bürger, ob Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gemeinsam bereit sind, diesen Staat zu entschulden und die dafür nötigen Opfer zu bringen.
"In Spanien sieht es besonders schlecht aus"
tagesschau.de: Welche Folgen sehen Sie, wenn bei der Rating-Erstellung diese Komponenten wenig oder gar nicht berücksichtigt werden?
Dill: Die Ergebnisse sehen wir ja jetzt. In den Jahren 2000 bis 2009 haben die US-Agenturen und die sogenannten Märkte Deutschland, Griechenland und Portugal gleich bewertet. Das heißt: Sie alle bekamen quasi den gleichen Zinssatz mit einem geringen Unterschied - ohne dass überhaupt gefragt wurde, ob in diesen drei Ländern die Bereitschaft zur Tilgung der Staatschulden in gleichem Ausmaß vorhanden ist. Das Ergebnis ist die jetzige Schuldenkrise.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie denn die Lage in den Krisenländern Spanien und Griechenland, aber auch Italien?
Dill: In Spanien haben wir eine überkommene Standesgesellschaft. Dort fehlen Elemente, die wir in Deutschland haben: ein Mittelstand, Föderalismus aber auch ein Branchenmix. In Spanien sieht es aus der Perspektive des Sozialkapitals besonders schlecht aus, weil die Solidarität, die Bereitschaft anderen zu helfen, in der Bevölkerung sehr gering ist.
In Italien ist es sehr viel besser. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass italienische Staatsanleihen in großem Maße von Italienern gehalten werden. Vor wenigen Monaten hatte dort ein Unternehmer dazu aufgerufen, Staatsanleihen zu kaufen. Angeblich sollen diesem Aufruf so viele gefolgt sein, dass Anleihen in Höhe von acht Milliarden Euro in Italien abgesetzt wurden.
In Griechenland wiederum haben sich die Bürger an die Gelddruckerei nach EU-Kriterien gewöhnt. Man muss allerdings sagen, der Generalstreik ist der Beweis für ein gewaltiges soziales Potenzial. Wenn die Bevölkerung es schaffen würde, sich zusammenzuraufen und einen quasi "positiven" Generalstreik auf die Beine zu stellen, dann ist auch für Griechenland nicht alles verloren.
Soziale Komponente mit Gewicht
tagesschau.de: Wie stark gewichten Sie die soziale Komponente bei Erstellung ihrer Ratings?
Dill: 15 Prozent ergeben sich bei uns aus einem sogenannten Index-Benchmark. Für diesen ziehen wir derzeit acht alternative Indizes heran. Ebenso mit 15 Prozent gewichten wir das "Bruttoszialprodukt-Reichtum-Verhältnis". Daran kann man messen: Wie hoch ist der Anteil eines Landes am Welthandel und wie hoch ist der Anteil am Weltvermögen. Bei einem höheren Anteil am Handel als am Vermögen ist offensichtlich: Da fließt Vermögen aus dem Land ab.
Wenn das der Fall ist, dann verschlechtert das aus unserer Sicht die Bonität. Der Staat kann nur mit dem Geld Schulden tilgen, das er hat. Wenn also die Bürger wie in Griechenland, Russland oder Brasilien Geld aus dem Land bringen, dann muss das bei der Bonitätsbewertung berücksichtigt werden.
Schließlich fließt mit 70 Prozent das sogenannte Sozialkapital in die Wertung ein. Wir definieren es als Summe der immateriellen Güter in einer Gemeinschaft. Dabei geht es um zentrale Fragestellungen wie die nach Sozialklima, Vertrauen und Hilfsbereitschaft.
tagesschau.de: Es gibt ja immer wieder den Vorwurf, die dominanten US-Agenturen würden nur selten negative Ratings der USA oder von US-Unternehmen vergeben. Ganz anders als die Ratings für Europa - die seien oft zu negativ. Was ist an dem Vorwurf dran?
Dill: Dieser Vorwurf ist völlig berechtigt. Man muss immer wieder betonen, dass das Länder-Rating nicht bezahlt wird - weder von den Ländern noch von anderen. Das Geld verdienen die Agenturen mit der Bewertung von Unternehmen. Und da sie nun mal US-Agenturen sind und ihre Bewertungen in den USA die größte Bedeutung haben, möchten sie natürlich nicht den Standort ihrer eigenen Kunden gefährden. Daraus ergibt sich eine nicht zu rechtfertigende Überbewertung der USA, die eben nicht objektiv ist.
"Reiner Opportunismus"
tagesschau.de: Von einem unruhigen europäischen Finanzmarkt haben allerdings auch US-Agenturen und Unternehmen keinen Vorteil. Warum jetzt diese massive Neubewertung für Europa?
Dill: Das ist reiner Opportunismus. Die Fehlbewertungen der vergangenen Jahre sind nicht methodologisch korrigiert worden. Dass die Ratingagenturen jetzt die europäischen Staaten abwerten, nachdem sie sie neun Jahre lang überbewertet haben, ist unglaubwürdig. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass gerade jetzt der Zeitpunkt ist, über neue Methoden zu sprechen.
tagesschau.de: Über neue Methoden wird mittlerweile in Europa debattiert. Heute trifft sich ein Ausschuss des Europa-Parlaments, um darüber zu beraten, wie die mächtigen Ratingagenturen besser kontrolliert werden können. Welche Möglichkeiten hat die europäische Politik überhaupt?
Dill: Ich glaube nicht, dass die EU ein Interesse daran hat, dass es zu objektiveren Bewertungen kommt. Das wurde auch in Gespräche deutlich, die ich mit Beteiligten geführt habe. Das Ziel der EU ist es, eine möglichst gute Bewertung zu erzielen, damit die Zinssätze für alle 17 Euro-Staaten niedrig ausfallen.
Die europäische Politik hat sich sehr darüber gefreut, dass die EU-Anleihen so überbewertet waren. Sie hat ja genau das zum Anlass genommen, die Politik, wie sie von der EZB und der EU weiter betrieben wird, für richtig zu erklären - aufgrund der niedrigen Zinssätze.
Japan und Norwegen kommen gut weg - Deutschland und die USA nicht
tagesschau.de: Die Bestnoten vergeben Sie für Japan und Norwegen. Deutschland und die USA bekommen von Ihrem Institut hingegen eine schlechte Bewertung - deutlich andere Einschätzungen als durch die großen Agenturen. Was sind die Gründe dafür?
Dill: Im Moment ist sowohl in der deutschen Gesellschaft als auch in der Politik keine Bereitschaft spürbar, die nötigen Opfer zu bringen, also persönliches Vermögen, Einkommen und Wohlstand, damit unser Land schuldenfrei wird.
Die Bundesregierung redet ständig vom Sparmeister Deutschland. Doch die Staatschulden seit 2010 gehen steil nach oben. Das ist nur zu bewerten als Ausdruck der fehlenden Opferbereitschaft.
Wir haben zudem einen völlig ungeklärten Generationenvertrag: Die jungen Menschen verdienen immer weniger, die alten Menschen haben dagegen zum Beispiel durch Renten und das Gesundheitssystem große Ansprüche an Renditen und an Zinsen. Und das muss ausgeglichen werden. Auch wir Deutschen müssen unsere Schulden tilgen, sonst stehen wir irgendwann da, wo Spanien und Griechenland heute stehen.
tagesschau.de: In dem Zusammenhang lassen Sie auch nicht gelten, dass Deutschland im Vergleich zu europäischen Partner wirtschaftlich noch gut da steht?
Dill: Was heißt das: "Steht wirtschaftlich gut da"? Wir haben eine Lohnstagnation seit mehr als 20 Jahren. Viele Menschen verdienen sehr wenig. Einzelnen Menschen und Gruppen geht es hingegen sehr gut - aber wir können nicht sagen, es gehe Deutschland sehr gut. Der Mindestlohn ist beispielsweise in Frankreich erheblich höher, der liegt bei neun Euro die Stunde - davon können viele hier nur träumen!
Das Interview führte Patrick Döcke für tagesschau.de